Schimpfpflicht und Lockdownlaune

Ich bin leicht übers Ohr zu hauen. Das weiß der Hütchenspieler, der mich am Alexanderplatz um einen grünen Schein erleichtert hat. Das sympathische Duo, das mir mal aus dem Lieferwagen zwei Paar wertloser Luxuslautsprecherboxen zum Schnäppchenpreis von 2000 Euro „verkauft“ hat. Ich hab den beiden Halunken noch eine Schallplatte von mir geschenkt, weil ich sie so nett fand. Anschließend haben sich diese seelenlosen Räuber in ihrem Betrügermobil wahrscheinlich feixend über mich lustig gemacht. Nachdem ich herausgefunden hatte, dass da nun vier Türme wertlosen Elektroschrotts in meiner Wohnung herumprotzten, ließ ich diese als Mahnmale noch einige Jahre stehen. Stumm und deutlich erinnerten sie mich an meine Naivität. Wenn ich dann mal wieder pleite war, schrien die klotzigen Monolithen: „Du weißt, warum!“

Als ich anfing, als Komponist an Theatern zu arbeiten, bekam ich schnell Mitleid, wenn mir ein Verwaltungsdirektor bei der Vertragsverhandlung erklärte, dass er eigentlich gar kein Budget für mich habe. Dass man mit beiden zugedrückten Augen aus anderen Töpfen mit Ach und Krach etwas für mich freimachen kann, aus Sympathie für mich und aus Respekt vor meiner eigentlich unbezahlbaren Arbeit. Oft begleitet von der verschwörerischen Bitte um Verschwiegenheit, weil das gar nicht erlaubt wäre, was der Direktor da gerade für mich macht.

Ich hatte manchmal den Reflex, auf mein Honorar zu verzichten, um das Theater nicht in Schwierigkeiten zu bringen. Oder einen Kredit aufzunehmen und dem Betrieb etwas zu leihen. Es hat ein Weilchen gedauert, bis ich gemerkt habe, dass Klagen und Jammern Teil einer effektiven Verhandlungsstrategie sind. Und dass der Wahrheitsgehalt der immer wieder gesungenen Ballade von den leeren Töpfen etwa dem von „Russia Today“ entspricht. 


In prächtiger Lockdownlaune mit dem Winterschlaf liebäugeln. Foto: Axel Martens


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Gesungene Nachrichten will man nur hören, wenn man ohnehin schon alles weiß und keine Fragen mehr hat. Wird gesungen, kann man sicher sein, dass Madame Realität gerade Sendepause hat. Ich bin leider zu gutgläubig, um zu merken, ob gerade jemand singt oder den harten Text der Wahrheit spricht.

Zur Zeit höre ich viele Schimpfarien, Motzkantaten und Nörgelschlager. Auch Belehrungs-Oden und Schmählieder, gekeift und gefaucht. Pöbelsongs und Jammerchansons laufen gratis in allgemeiner Rotation. Elendsklagen von kenntnisfernen Verschwörungsbarden. Selbst auf den überzahlten Fake-Luxuslautsprechern klingen die übellaunigen Nevergreens so furchterregend, als würde Dieter Bohlen in Bayreuth den Ring des Nibelungen dirigieren.

Diese Stimmen wären einen Lockdown wert. Vielleicht schulen die tollwütigen Troubadoure danach ja auf freundlichere Berufe um, zum Beispiel Hütchenspieler.

Mark Scheibe

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