ACT LIKE A STUMMFILMDIVA

Als Dauergast im Hotel Art Nouveau gehen die unguten Selbstverständlichkeiten des gewöhnlichen Wohnens an mir vorbei: so muss ich zum Glück nicht mit der Telekom telefonieren. Einer bemitleidenswerten Freundin entgleisten die eleganten Züge, als ich sie beim Versuch begleitete, durch das würdelose Automatengewäsch in der sogenannten Hotline zu einem echten Menschen durchzudringen, der ihr das Internet in der neuen Wohnung anstellt. Marketingschwätzern und Phrasenwerfern wünsche ich die Sprachlosigkeit von Stummfilmdarstellern. Beim Versuch, ihre Sätze durch Mimik und Gestik hervorzubringen, würden manche wortreichen Dauersprecher merken, dass nichts da ist, was sie darzustellen haben.

Ich liege auf dem Rücken und beobachte den Stuck an der Decke. Wer sich in seiner Gegenwart schon alles geliebt haben muss. Wieviele Sprachen unter den Jugendstilverzierungen bereits erklangen. Ob schon gestorben wurde unter den Ornamenten an meiner Hotelsuitedecke? Womöglich gemordet? 1907 ging ein Stuckateur hier seinem heute unbezahlbaren Handwerk nach. 20 Jahre später zeigte das Kino in der Nachbarschaft, das heute „Zoo-Palast“ heißt, den Science-Fiction-Stummfilm „Metropolis“ von Fritz Lang.

Das zweinhalbstündige Meisterwerk kam gar nicht gut an. Ein finanzielles Fiasko, das die cineastische Welt lächerlich fand. Am Rosa-Luxemburg-Platz steht das Kino Babylon, auch in der Stummfilmzeit gebaut. Dort läuft „Metropolis“ heute noch: von einem eigens für dieses Kino gegründeten Stummfilmorchester begleitet, das ist eine weltweite Sensation.

Ich sage dir, liebe Berlintouristin, lege dich im Hotel Art Nouveau ins Bett, schaue auf den Stuck an der Decke und nimm dann eine Droschke zum Babylon, um dir „Metropolis“ anzuschauen. Dann sitzt du im Kinosaal. Anstatt mit Werbung „unterhalten“ zu werden, spielt Deutschlands einzige festangestellte Kino-Organistin auf der abenteuerlichen Originalorgel Musik aus der Zeit der Federboas. Dann tritt das Orchester auf, der Dirigent gibt einen Einsatz und der Schwarzweißfilm beginnt. Keine Dialoge lenken von der Emotion der Handlung ab. Nur Bilder und Musik erzählen die Geschichte. Und wie die Mimen spielen! Ihnen fehlen ja die Worte, sie müssen alles übertreiben, damit man sie versteht. Freude, Lust und finstere Absichten liest du in den Gesichtern wie ansonsten nur im Mienenspiel von Kindern.

Zur Zeit der Stummfilme meinte der Sprachkünstler Karl Kraus, es genüge nicht, nur keine Gedanken zu haben, man müsse auch unfähig sein, sie auszudrücken. Wenn die 1920er Jahre das Jahrzehnt des Expressionismus war, werden unsere aktuellen 20er womöglich als Dekade des unbegründeten Aufbauschens geringer Substanz in die Geschichte hineinblähen.

Der Satz „Die Präsentation fokussiert bereits jetzt die nächsten Innovationen“ dient Sprachwächter Wolf Schneider als Beispielgift für den Wattesound der Gegenwart. „Die Slides bitte triplechecken. Gehen directly zum CMO“ ist ein Zitat, das ich dem satirischen Blog der Facebookseite „Beratersprech“ entnehme. Ein Taxifahrer aus dem Iran zeigte mir einen Brief vom Finanzamt, den er nicht verstand. Es ging darin um eine bestimmte Summe Gelds. Ich war nicht in der Lage, dem ratlosen Mann zu helfen und ihm zu sagen, ob er den Betrag zahlen muss oder ob er ihn überwiesen bekommt. So unnötig kompliziert war dieses behördliche Informationsmonster.

Der Autor beim stummfilmartigen Darstellen der Emotion „Freude“.                                                             Foto von Martin Peterdamm


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Die Körpersprache hingegen kennt keine Unklarheiten und Lügen. Eine Marketingfrechheit wie „Wir arbeiten mit Hochdruck an der Lösung Ihres Problems“ würde sich, übersetzt in Körpersprache, durch unfreiwillige Komik als Nonsens entlarven. Ein Stuckateur aber faselt nicht; wenn er mit Glättkelle, Traufel und Spachtel sein langsames Werk verrichtet, sitzt jede Vokabel und ist auch nach über hundert Jahren noch ein Fest für die Sinne.

Ich nehme die Erkenntnis meiner heutigen Kolumne zum Anlass für eine Aufforderung und will der Erste sein, der ihr nachgeht: Act like a Stummfilmdiva! Wenn mal wieder irgendeine Lifestylewerbung „Express yourself!“ vorschreibt, reiße ich die Augen weit auf und mache gigantische Gesten. Freue ich mich, will ich die Lampen hinter den Augen in den Halogenmodus schalten und vorsätzlich alles niederstrahlen, als gäbe es nur Dunkelheit in dieser Welt. Ist mir düster zumute, werde ich grollen, schwärzen und mit suspektem Gesicht meine Umwelt schattieren.

Jede Begegnung soll eine Szene sein, das will geübt werden: Bei Alnatura werde ich an der Kasse den Geldschein mit beiden Händen halten, feierlich dreinblicken und ihn wie eine Urkunde der Kassiererin entgegenreichen. Das Glück, in Charlottenburg eine Maracuja zu kaufen, werde ich mit einem exotischen Tanz andeuten. Wie fasziniert ich bin, ein Wiener Schnitzel aus Soja in den Händen zu halten, soll von einem weltansteckenden Staunen begleitet sein. Zumindest will ich die Hacken in der Luft aneinanderknallen vor Verzückung, dass der Stuck wackelt. Er wird vermutlich halten.

Mark Scheibe

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