Annabella zieht um

Annabella (Name v. d. Red. geändert) streicht ihre Wohnung in Neukölln. Als Einzelkind weiß sie zu schätzen, wenn man sich um sie kümmert. Der Bezirk Neukölln versprüht so gar keine Fürsorglichkeit. Sie zieht in ihren Wunschbezirk Charlottenburg, denn Neuköllns  Restaurants haben keine Kronleuchter. Austernbars findet man nirgends, fast nie steht ein ordentlicher Champagner auf den Getränkekarten der lokalen Gastronomie. 

Das ist natürlich ein enormer wohnkultureller Niveauzuwachs: vom weltberühmten Gangsterbezirk, dessen Straßen von alten Kühlschränken, durchgesessenen Versandhaussofas und zerbrochenen Spanplattenschränken dekoriert sind, in den schicken alten Westen! Wo knapp volljährige Models großzügige „Sugardaddys“ zum Kauf von Pradaschuhen und Birkin-Bags inspirieren. Wo das seidene Halstuch nie an modischer Aktualität verloren hat. Der Ku’damm bildet die Bühne für wohlhabende Erfolgsdarsteller, denen die internationale Hipness von Mitte und Prenzlauer Berg kein Zuhausegefühl vermittelt. Auch, weil der Chauffeur dort für den Porsche Cayenne noch nicht mal einen freien Behindertenparkplatz findet. 

Annabella hat ihr neues Zuhause über eine Wohnungstauschagentur gefunden. Ich hatte es für aussichtslos gehalten, Leute zu finden, die ihre Wohnverhältnisse durch einen Bezirksdowngrade freiwillig verschlechtern würden. Die meisten Menschen sehnen sich mit zunehmendem Alter nicht nach noch mehr Hundefäkalien vor der Haustür. Auch die Faszination für brandneue Einschusslöcher in den Fassaden lässt in der Regel nach. Zu wohnen, wo Polizisten Todesangst haben, wenn sie mal nach dem Führerschein fragen, ist für Dauerteenager in ihren Zwanzigern cool, wenn sie einen Unterweltfetisch haben. Der verliert aber meist nach einer Weile an Magie. Vor allem, wenn die eigene Kriminalität gerademal ausreicht, dem Jobcenter Nebeinkünfte aus privatem Cannabisverkauf zu verschweigen.

Annabella (Abbildung ähnlich)

Annabella also hatte Glück: einem Paar, das sich am Savignyplatz underdressed vorkommt und das mit dem Personal in Cafés lieber Englisch spricht, ist aus Versehen vor ein paar Jahren im Erwachsenenstadtteil mit dem großen Zoo gestrandet. Die Freunde des Paares sind bärtig und trocknen ihre Skinnyjeans in Kreuzberger Altbauten. Freundinnen leben in Sonnenallee-WGs und teilen sich die Tische für ihre Macbooks in Coworkingspaces am Hermannplatz. Die beiden haben einen ganz anderen Blick auf die Gegend mit der hohen Kriminalitätsbelastung. Für sie haben die Künstler des alten Berlin ihre Anziehungskraft verloren.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Sie wollen nicht mehr leben, wo Erich Kästner dichtete, dass an allem Unfug auch die schuld sind, die ihn nicht verhindern. Sie sehnen sich nach Neukölln. Dort feilt zum Beispiel Rapper Crystal F. an seinem Werk und schmiedet Zeilen wie „Ich pump’ wie ein Gestörter gleich Kugeln in dein’ Körper“. Auch das etwas kryptische Bonmot „Ich füll’ dein Blut in ein Kondom ein und schick’s deiner Mama aus Bosheit“ stammt vom Neuköllner Poesiegrenzgänger mit dem polarisierenden Künstlernamen.

In Charlottenburgs Kaiser-Friedrich-Straße schrieb Robert Walser „Man passt dahin, wohin man sich sehnt.“
Wie schön, dass hier Platz für uns alle ist. In Berlin.

 

Mark Scheibe

Gefällt Ihnen diese Kolumne? Tauschen Sie sich mit unserem Artist-in-Residence aus: www.facebook.com/markscheibemusik

Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.