BERLIN – WIEN IM SCHLAFWAGEN

Ich schaue aus dem Fenster des „Nightjet“ genannten Nachtzugs, der Charlottenburg mit Wien verbindet und bade im Schienenglück. Wegen des Luxus, während der Fahrt im Bett zu liegen und aus dem Fenster schauen zu können. Ich finde bemerkenswert, dass der Zug nach Wien ausgerechnet in Charlottenburg startet und nicht in Berlin-Gesundbrunnen oder am Ostbahnhof. Im Schlechte-Laune-Ranking Berliner Bezirke schneidet Charlottenburg nämlich übel ab. In der Nörgel- und Motztabelle stehen Wedding und Neukölln ganz oben, auch in Mitte wird gemault, in Pankow gepöbelt. Das Kreuzberger Klagen ist legendär, vom Friedrichshainer Frust ganz zu schweigen.

Die Schöneberger Schwermut badet in Tempelhofer Tränen, aber Charlottenburg? Einfach schön, charmant geradezu, der Umgang hier hat fast etwas von Schmäh! Überhaupt ist Charlottenburg im Grunde das Wien Berlins. Kürzlich wurde eine Freundin hier wach und schmiegte sich lächelnd in die traumtrunkene Illusion, ein Fiaker führe über die Leibnizstraße. Es waren nur zwei Reisende, die ihre Rollkoffer über das alte Pflaster des Bürgersteigs rattern ließen. Ist es ein Zufall, dass sich diese freundliche Halluzination in der Leibnizstraße ereignet?

Schliefe die Schöne am Kottbusser Tor, störte sie das Stakkato der Plastikrollen auf Betonplatten, weil sie dächte, dass wieder geschossen würde. In Wien werden Pistolen nur zum Duell gezogen, so stelle ich mir das vor, weil hochkultivierte Ehrenmänner in Frack und Zylinder einer Kränkung wegen existentielle Entscheidungen treffen. Mit Haltung, ohne Hass. Wien ist freundlich. Geht man in Wien ins Geschäft, wird man wahrgenommen, man spricht miteinander und schenkt sich ein Lächeln. Miesepeter aus Mitte und Treptower Trübtassen schürzen jetzt die vom Mundwinkelhängenlassen unterspannten Oberlippen und mahnen mit mondäner Miene in moralgewisser Mauligkeit: „Die warmen Worte Wiener Händler haben keine wahren Werte! Falsch sind die lustvollen Lächler, zwanghaft zeigen sie die Zähne, kostümieren ihren Menschenekel in erstarrten Umgangsformen! Deren Freundlichkeit ist Pose und eine Pose ist nicht echt!“

Der schönste Stadtteil in Berlin

Ich möchte dieser Kolumne die Ehrenrettung der Pose unterjubeln. Auf einem Seminar für Musiker, das sich dem Thema „Flow“ widmete, lernte ich folgende von Neurologen ins Kolloquium getragene Erkenntnis: Lächelt man ohne Grund und hält das eine Weile durch, schüttet das Gehirn nach etwa zwei Minuten Botenstoffe aus, die mit dem Empfinden von Glück assoziiert sind – und überspielen die Verdrossenheit, die einen womöglich nach Mitte trüge. Ich aber habe mich in Berlin schönsten Bezirk hineingelächelt. Wien mag die Stadt der Posen sein, aber der Endorphin-Pegel ist dort eben auch höher als unter niedergeschlagenen Niederschönhausern und den Pessimisten vom Prenzlauer Berg.

Denen bringe ich ein bisschen Leichtigkeit von meiner Reise mit, sie liegt dann zur Abholung bereit an der Rezeption des Hotels Art Nouveau in Charlottenburg. Gute Nacht und baba.

Mark Scheibe

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