Übers Aushalten

Ich schreibe gerne Songs. Ich höre hin und wieder, dass meine Lieder aus einem Stimmungstief heraushelfen oder ein Lächeln hinzaubern, wo zuvor ein Grollen war. Das leitet mich und gibt mir das Gefühl, einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Früher war das anders: da habe ich gern Lieder gesungen, die polarisierten und immer auch ein bisschen Ärger machten. Ein in dieser Hinsicht erfolgreicher Song war der „Unterschichten-Bossanova“, in dem ich eine bildungsferne Horrorfamilie karikiert habe.

Auf eine von französischer Eleganz gestreichelten Champagnermelodie sang ich: „Justin ist zweieinhalb und hat Übergewicht. Seiner Mutter ist das egal und Justin weiß es noch nicht. Justins Schwester Nadine, zwölf Jahre, zur Zeit im Methadonprogramm, ist mal wieder schwanger, was ja auch passieren kann. Der Vater wusste zunächst nicht, wie er reagieren solle. Bis Nadine ihm sagte, dass das Kind wahrscheinlich von ihm war, und sie es haben wolle.“ So nimmt das Drama seinen Lauf, bevor es heißt: „Das ist der Unterschichten-Bossanova auf dem noch nicht bezahlten Versandhaussofa.“ Ich habe die Prekariatsdystopie absichtlich im tropisch inspirierten Easy-Listening-Sound komponiert. Der Berliner Radiosender „Fritz“ bekam dafür vorwurfsvolle Hörerbriefe. Zum Glück gab es keine Kulturpolizei, die das verbieten konnte. 

Auch zu einem Reizthema wurde die Ballade „Du bist so schön, wenn ich besoffen bin“. Darin ging es um eine Beziehung, die nur im Schatten der Nacht stattfand, und die tagsüber, nüchtern betrachtet, keine Chance hatte. Ein Veranstalter bekam deswegen Wutpost: er sollte einem niveaulosen Schnulzensänger wie mir mit seinen menschenverachtenden Gehässigkeiten keine Bühne bieten. Danke, lieber Veranstalter, dass ich auch heute noch bei dir auftreten darf.

Für mein Lied „Soz.-Päd.-Ute“ bakam ich von der Taz eine journalistische Ohrfeige verpasst. Mit der total überspitzten Parodie einer politisch überkorrekten Dauerstudentin, die im Mauerpark Bongos spielt, um die Afrikanerin in sich zu finden, machte ich mich in den Augen der Zeitung zu einem „antifeministischen Deppen“. Ich danke hiermit der tazlesenden Allgemeinheit, dass sie trotz dieser Schmähung von Drohbriefen abgesehen hat.

Ein verschlafenes Dorf in den französischen Alpen. Hier lässt es sich aushalten.

Ich spielte auf Konzerten auch das verbotene „Horst-Wessel-Lied“. Wer es nicht kennt: auf eine Melodie aus dem 19. Jahrhundert schrieb ein mit überschaubaren poetischen Fähigkeiten ausgestatteter Nationalsozialist einen blutschwülstigen Kampftext. Damit machte er das Lied zur Parteihymne der NSDAP. Folgerichtigerweise ist diese seit 1945 verboten, genauso wie das Tragen von Hakenkreuzen. Das reizte mich. Ich arrangierte den Song im soften Karibiksound und sang ihn im Duett mit einer französischen Sängerin mit starkem Akzent. Ich bin froh, dass man so etwas hier machen kann.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Sexuelle Gewalt in Familien ist der Horror. Wer sich damit beschäftigt, verabscheut womöglich meinen Unterschichtenbossanova. Und hält aus, dass es ihn gibt. Ich halte aus, dafür als zynisch und ignorant beschimpft zu werden, auch wenn es schmerzt.

Für die Taz-Autorin war ich eine Zumutung. Sie hielt mich einen ganzen Abend lang aus. Das war bestimmt hart für sie. Ich halte aus, von ihr öffentlich herabgewürdigt zu werden.

Wir schätzen uns gegenseitig gering, aber wir bringen uns nicht um. Ich fordere die Redaktion nicht auf, ihre Mitarbeiterin zu feuern und sie sammelt keine Unterschriften für ein Auftrittsverbot. Wir kommen mit unseren gegensätzlichen Meinungen, Haltungen und Geschmäckern klar. Ich bin froh, in einer Gesellschaft zu leben, die sich verpflichtet hat, einander auszuhalten.

Mark Scheibe

P.S.: Wer die Taz-Autorin verstehen will, hört Soz.-Päd.-Ute auf Spotify

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