Der Horror mit dem Glückskeks

Auf der Nordseeinsel Spiekeroog grüßt man mit „Moin“. Hier lebt es, das Klischee des „Friesisch-Herben“, mit dem die Jever-Brauerei seit Ewigkeiten wirbt. Wortkarge Lebensmeister, die dir die Wahrheit ungeschnörkelt ins Gesicht rufen, während sie, von einer Orkanböe unbeeindruckt, eine Krabbe pulen. 

Ich spaziere mit Annabella (Name v. d. Red. geändert) durchs Dorf, vor uns läuft ein Mann, Mitte 50. Seine Körpersprache orientiert sich an Kerlen, die sich nichts vormachen lassen. Seine filterlose Zigarette hält er zwischen Daumen und Ringfinger. So wie auf dem Schulhof früher – in dieser Haltung kann die Kippe schnell in der Hand verschwinden. Die schwarze Jeans umkleidet Beine, die wissen, wie ein Pferd zu bändigen ist. In tiefen Kinnfalten vergrabene Mundwinkel berichten von einem Leben, in dem es nichts zu lachen gibt. Ein eisiger Blick verkündet die Bereitschaft, für die eigenen Ideale zu sterben. Auf der Rückseite seines T-Shirts prangt: „You better learn to fucking live.“

Auf der Restaurantterrasse des Hotels zur Linde gibt es statt Labskaus und Bratkartoffeln ein Trüffelspinatrisotto an Parmesanschaum. Klingt nach prätentiöser Mützenchväterküche von bärtigen Berlin-Mitte-Stuttgartern, schmeckt aber köstlich. Annabella und mir entgleiten, weil es so lecker ist, Geräusche, die von benachbarten Gästen als pornographisch eingeordnet werden dürften. Die Wirtin beeindruckt das nicht. In nordseebarschem Platt sagt sie: „Ihr hedd’ ma letz Jaa herkomm solln. Do had wi fermentierte Tann’zapfen!“ 

Szene mit Originalkeks nachgestellt.

Mit dem Espresso bringt sie uns überraschenderweise „Glückskekse“, wie man sie sonst in „Kim’s Shanghai-Bistro“ nach der 96 ohne Fischsauce bekommt. Gern liest man mit vollem Magen dann wohltuende Worte wie „Jede Minute, die man lacht, verlängert das Leben um eine Stunde.“ oder andere Klugheiten aus dem Morgenland – und nimmt sie persönlich. Ich breche also meinen Keks auf und freue mich auf eine gutverdauliche Bestätigung meiner angeborenen Überheblichkeit. „Wer nicht auf den hohen Berg steigt, kennt die Ebene nicht.“ würde jetzt gut passen. Auch ein ermutigender Schulterklopfer für meine Harmoniesucht wäre angenehm: „Wende Dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter Dich.“


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Der Spiekeroog-Keks aber ist anders geladen. Hier schmeichelt mir nicht Konfuzius den längst bekannten Konsens um die Ohren. Hier knallt der Klabautermann persönlich die Keks-Aphorismen aufs Papier: „Man soll das kleinere Übel nehmen.“ lese ich erschüttert. In meinem satten Körper stürzt gerade eine Seele ins Nichts. Was soll das bedeuten? Annabella erwischt es nicht besser: „Kümmer dich nicht um Angelegenheiten anderer Leute.“ hält sie, auf einen kleinen Papierstreifen gedruckt, in ihren Händen. Wir erblassen. Was für Gemeinheiten schlummern da noch im Innern importierter Weizencookies? „Spiel dich nicht so auf, so toll bist du auch nicht.“ oder „Für dich gibt es keine Extrawurst.“? Vielleicht „Glaube nicht den Schmeicheleien deiner sogenannten Freunde – in Wirklichkeit bist du hässlich.“?

Verbale Grausamkeiten aus der Strafvollzugsabteilung der Sprichwortbranche tauchen die Abendidylle in ein finsteres Licht. Als übersensible Großstädter suchen wir nach dem Sinn der herzlosen Zurechtweisungen nach dem Abendessen. Wir fragen uns, ob die Wirtin weiß, wes Kekses Kind ihre Kaffebeigaben sind. Und ob der kantige Frieslandcowboy in seinem Leben Leute hat, um deren Angelegenheiten er sich kümmern kann. Beim Abendspaziergang begegnet uns ein gutgelauntes Seniorinnengrüppchen mit Motto-T-Shirts: „Die Klapse hat heut Wandertag“. Da ist das kleinere Übel der Textilbeschriftungen wohl: You better learn to fucking live.

 

Mark Scheibe

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