ERSTER KLASSE DURCH CHARLOTTENBURG

Mein Unterbewusstsein ist ein Snob. Es hat kein Interesse an der Gesellschaft auf dem Bahnsteig des Berliner Hauptbahnhofs. An der wuselnden Menschenmenge, die sich um die ächzend öffnende ICE-Tür drängt. Ich würde der nervösen Schar gern mit philanthropischer Güte begegnen, aber mein Unterbewusstsein ist der Meinung, dass die Bahncard erster Klasse auch nach dem Aussteigen noch gilt und verbietet mir zu lächeln. Es hält nach Privilegien Ausschau, schließlich hält es sich mindestens für Richard Wagner.

Wo ist das Empfangskomitee und die Pferdekutsche?. Mein Unterbewusstsein rümpft die hoch getragene Nase beim Anblick der Taxischlange und schlägt ein Carsharing-Auto vor. Zwar kann es als im Körper eines Einzelkinds wohnende Führungskraft mit „Sharing“ nicht viel anfangen, hält dies aber im Augenblick für die beste Option. Jetzt muss es mich nur ein paar hundert Meter bewegen, damit ich in einem neuwagenduftenden Auto Rückzug finde. Schnell nach Hause in die Hotelsuite, die Karre parken und ab in die Badewanne. Dort hat die Führungskraft erstmal Feierabend und ich kann alte Derrickfolgen gucken!

Mein Unterbewusstsein ist ein Snob. Foto von Nicoletta Fornaro

Auf der Leibnizstraße staut sich der Verkehr. Die Zufahrt ist versperrt. An der Straßenabsperrung steht ein Polizist, der mich mit hauptstadttypischem Charme anmotzt. Ich bin erschüttert: bei Derrick in München sind die einfachen Polizisten immer respektvoll bei Begegnungen mit der Oberschicht. Ich darf nicht weiterfahren, obwohl ich ihm versichere: „Mein Lieber! Ich wohne im Hotel Art Nouveau in der Leibnizstraße!“ Seine Körpersprache bedient sich am Wortschatz eines Brandenburger Türstehers, seine Mimik trägt Eigenheiten von Alice Weidel und Michael Wendler. Ich weiche der Staatsmacht. Am südwestlichen Ende des Kurfürstendamms parke ich also das Mietauto und schaue schon so grimmig drein wie der unausgeglichene Wachtposten mit seinen Absperrungshütchen.


„Guten Tag, ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter, Musikfilmemacher und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Keine Chance, mit Grandezza, Gleichmut, Großzügigkeit zu flanieren. Ich grummele den Ku’damm von Halensee in Richtung Leibnizstaße entlang. Dann seh ich die Endorphingesichter der an mir vorbeischwebenden Läuferinnen: Wippende Pferdeschwänze, neongelbe Schuhe. Freundliches Klatschen der Turnschuhsohlen auf dem Asphalt, Keuchen, Applaus und anfeuernder Jubel. Wo sonst Unternehmersöhne mit den zwölf Zylindern ihrer Familiensportwagen herumdröhnen, ist heute „Runner’s Night“, ich finde das gut!

DER AUTOFREIE KU’DAMM

Meine Therapeutin hat mir geraten, mich im Bewerten ohne Begründen zu üben; die Läuferinnen finde ich gut. Ku’damm ohne Autos: gut. Erste Klasse: gut. Viele Menschen auf dem Bahnhof: nicht gut. Viele Menschen auf meinem Konzert: find ich gut. Der Polizist vorhin: nicht gut. Besonders das negative Bewerten macht Spaß, hatte ich es mir im Zuge der Prämisse positiven Denkens doch beinah abgewöhnt: immer konstruktiv sein und dem Müll der Welt, aller Nachlässig- und Hässlichkeit mit gewaltfreier Kommunikation begegnen! Offenbar bin ich für buddhistischen Gleichmut aber noch nicht alt genug, der menschliche Abgrund provoziert mich immer wieder, vor allem mein eigener – ich stehe lang noch nicht „darüber“.

Ein befreundeter Schlagersänger tratschte einmal leidenschaftlich über einen Kollegen und zeigte mir eine bemerkenswerte rhetorische Formel, mit der man einer Meinung die Robe der Wahrheit anziehen kann: „Ich mein das jetzt nicht wertend, was ich über XXX sage, aber er ist wirklich ein Riesenarschloch!“ Ich glaube, auch ihm war wichtig, dass er gewaltfrei kommuniziert. Gewaltfrei ist auch das Ende einer jeden Derrickfolge: zum Schluss leuchtet die Gerechtigkeit, oft gibt es noch eine Offenbarung moralischer Lebensklugheit vom Oberinspektor. Find ich aber nicht gut. Ich lass noch etwas heißes Wasser nachlaufen und kann endlich lächeln.

Mark Scheibe

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