FREMDGEHEN IM JAZZCLUB

Klingt Jazz für dich wie eine unnötige Fremdsprache, wie zum Beispiel Latein, nur mit außerirdischem Akzent? Wenn das Publikum bei einem Jazzkonzert nach einem Solo applaudiert, fragst du dich, was der Quatsch soll? Wird deine musikalische Geschmackswelt von U2, André Rieu oder Andrea Berg beherrscht, gilt für dich womöglich: Jazz = Strafe.
Die Eingeweihten hören in dem chaotischen Gegniedel allerdings die größten Offenbarungen universaler Klugheit, während du darüber  den Kopf schüttelst.

Wenn du nämlich auf Jazz stehst, hast du an diesem Durcheinander die hellste Freude. Dein Körper steht in Flammen, wenn die Anderen sagen, zu dem Mist kann man nicht tanzen. Wenn du drauf stehst, ist Jazz wie ein Gespräch über deine Lieblingsthemen. Und du musst dabei ständig deine Meinung ändern, weil es dauernd neue Erkenntnisse gibt. Das Wesen des Jazz sei das Risiko, heißt es von berühmten Musikern. Bei jedem Mal Singen ein Lied neu zu erfinden, war Billie Holidays Idee von Jazz. Und: wer keine Fehler macht, spielt keinen Jazz, sagen Kenny Barron und Art Blakey, zwei Giganten des Genres.
Falls jemand „Definition von Jazz“ googeln möchte: diese Kolumne plaudert sie aus – und gibt praktische Beziehungstipps.

Der Jazzclub A-Trane am Savignyplatz in Westberlin, zu Fuß ein paar Minuten vom Hotel Art Nouveau: diese Bühne trägt die ganz Großen. Herbie Hancock hat hier seine Hits in den Flügel getastet und die zärtliche Königin Diana Krall ihre Gershwin-Tunes ins Mikro gesäuselt. Der Weltjazzpapst Wynton Marsalis blies hier geniale Trompetensoli und der Könner Till Brönner ist Dauergast.

Als Schlagersänger mit Jazz-Attitüde hätte ich Angst, ein Konzert im A-Trane zu spielen.Vor den Kennern, die Bescheid wissen und mich sofort als Jazzbetrüger entlarvten, als Hochstapler. Dann flöge endlich auf, dass ich das alles gar nicht kann! Für diese Katharsis bin ich noch nicht bereit.

In den 90ern lernte ich mal eine Hamburger Klavierprofessorin kennen, eine weniger akademische Freundin von ihr hat sie ins Konzert von mir geschleppt. Wir lernten uns kennen, ich war neugierig und wollte wissen, wie die promovierte Virtuosin meine pianistischen Skills einschätzt. Sie nahm sich für mich eine halbe Stunde in der Hochschule frei.

Ich spielte ihr am Steinway vor, gab mir richtig Mühe. Ich swingte mit aller Leidenschaft durch augenblicklich erfundene Melodien, warf meinen Oberkörper mit Hingabe in wuchtige Akkorde und lebte mich am Flügel großspurig aus, so heftig ich konnte. Schmiss mein Haar im Rhythmus meiner linken Hand durch die Luft und griff in die Tastatur, als ob ich sie animalisch begehrte. Die apokalyptischen Schlussakkorde schmetterte ich breitbeinig, vorm Instrument stehend, auf die Klaviatur, und bebte mit jedem Schlag körperlich mit, bis ich mich zum finalen Basston wieder auf die Klavierbank sinken ließ. Dann beugte ich mich wie eine Katze zu den Tasten und mit einem letzten Zucken spendierte ich dem apokalyptischen Donnern meiner linken Hand einen perlenden Nachklang im Diskant. Allmählich richtete ich mich auf. Bereit, für mein geniales musikalisches Manifest die Segnung der Akademie zu erhalten.


„Guten Tag, ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


 

Verträumt gucken vor dem Herbie-Hancock-Flügel im A-Trane. Foto von Carolin Hauke.

Nach dem ausbleibenden Applaus schwieg die Akademie eine Weile. Eine Ewigkeit später sprach sie das Urteil: „Es sieht zumindest so aus, als ob es gut klingen würde.“
Ich berufe mich auf Oscar Wilde und habe demnach alles richtig gemacht: Der Vater aller Dandys war der Meinung, dass nur oberflächliche Leute die Dinge nicht nach ihrer Erscheinung beurteilen. Das Auge hört mit.

Ins A-Trane hab ich mich jetzt reingemogelt: nicht für ein Konzert, aber zum Videodreh für mein Lied „Fremdgehen“. Da geht es um eine erloschene Beziehung, in der die Frau vom Mann ignoriert wird, dann reißt sie aus. Für ein Abenteuer. Dieses Abenteuer heißt Leben. Leben bedeutet Risiko. Jazz ist auch Risiko. Jazz ist Abenteuer. Vielleicht kann ich ja doch mal im A-Trane ein Konzert geben. Solange nicht allzu viele strenge Klavierprofessorinnen im Publikum sitzen, können wir gemeinsam das Fest des Abenteuers feiern.

Vom Wesen her ist das Verhalten der Frau in meinem Song das Gleiche wie Jazz: es ist riskant, hat befreiende Wirkung und geht einer Menge Leute auf die Nerven, während andere applaudieren. Das müssen Jazzmusiker wohl in Kauf nehmen. Liebende aber auch.

Mark Scheibe

Nach dem Dreh im A-Trane habe ich am Flügel Jazz gespielt. Klingt es nicht so, als ob es gut aussehen würde? (Das Video startet bei Klick aufs Bild mit dem Abspann bei Minute 5:09, gleich nach dem „Schlager“.)

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