Ku’damm-Kollisionen & Novembernächte

Ob es daran liegt, dass ich gerade einen Stummfilm vertone? Kürzlich krachte ein matter SUV auf das empfindliche Heck meines Carsharingautos. Bevor ich mich vom Schock der Kollision erholte, war der geheimnisvolle Unfallgegner nämlich ohne Worte verschwunden. Ich war zu arrogant, um mir das Nummernschild einzuprägen und saß fassungslos in der Leibnizstraße, die Limousine lädiert. Eigentlich wollte ich mit Annabella (Name von der Red. geändert) in einer Pizzeria am Stuttgarter Platz den beginnenden November feiern: die Zeit, in der die Nacht dich schon nachmittags zu küssen beginnt. In der du je nach Veranlagung in vampireskem Wohlgefühl badest oder dich in der eigenen Finsternis verläufst. 

Der Stummfilm, zu dem ich neue Musik erfinden darf, ist ein echtes Novemberdrama: die Geschichte vom genialen Bösewicht Dr. Mabuse, einem Finsterling ohne Seele, aber mit Lust am Spiel mit Menschen und ihren Schicksalen. Für einen Verkehrsunfall mit Fahrerflucht hätte Dr. Mabuse kein müdes Lächeln übrig gehabt. Mabuse manipulierte Börsenkurse, trieb Männer in den Selbstmord, die seine Hilfe suchten und ließ Frauen, die ihm verfallen waren, im Gefängnis sterben. Selbstverständlich ist es seiner Virtuosität zu verdanken, dass sie überhaupt dort einsaßen. Was er begehrte, besorgte er sich. Auf einem Empathieseminar hätten die Kursleiter:innen mit Dr. Mabuse richtig Arbeit gehabt. Am Ende der viereinhalb kurzweiligen Stunden nützt ihm seine einzigartige Handwerkskunst der Bösartigkeit garnichts: sein großer innerer Palast der Seelenlosigkeit kracht in hilflosem Wahn in sich zusammen. 


Das Kino Babylon am Rosa-Luxemburg-Platz: seit 1928 ein Lichtspielhaus mit Kinoorgel, die regelmäßig gespielt wird. Foto: Wikimedia

Hilfloser Wahn muss auch den Straßenrüpel gepeitscht haben, der mich wie im Autoscooter motorisiert anrempelte und dann einfach abhaute. Nachdem ich 110 getippt habe, hörte ich der Warteschleife der Berliner Polizei ein kleines Weilchen zu. Dann nahm ein Beamter ab, ich schilderte, was passiert war. Er sagte, ein Streifenwagen würde kommen. Ich fragte ganz zärtlich, ob er eine Idee hätte, wie lange ich in etwa warten müsse. Das wisse er nicht, hieß es. Ich machte noch einen schüchternen Versuch und fragte, ob er denkt, dass es eher 15 Minuten oder eher zwei Stunden seien. In letzterem Fall würde ich mit meiner reizenden und vom Unfall geschockten Begleiterin nämlich zunächst etwas essen gehen. Das machte den Polizisten neidisch, er gab nun Befehle: „Sie warten da jetzt solange, bis der Streifenwagen kommt!“ Ich verbat mir den Imperativ, aber der entgleiste Notruf hatte schon seinen Zweck erfüllt – in diesem Augenblick rollte  der Peterwagen vom Ku’damm her zum Unfallort.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Dem charakterlosen Kollideur wünsche ich eine seelenerschütternde Umnachtung, die ihn im Dunkel seiner Gründe, einfach zu verschwinden, umarmen möge. Mit novembriger Intensität und einer eisigen Gemeinheit, die Dr. Mabuse kollegial geschätzt hätte. Der Unfallschmerz ist schon auf dem Weg, Musik zu werden. Eine gewaltige Schockwelle an Bass und düsteren Akkorden steht bereits in der Partitur. Der beginnende November ist damit auch gefeiert. Allen Anderen wünsche ich prächtigere Feste.

Mark Scheibe

Der Musik gewordene Unfall: Ausschnitt aus der Partitur zu „Dr. Mabuse“.

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