Pianist in der Hotelbar / Perlen fürs Prestige

Ich gleite über lichtdurchflutete Gänge auf dem Weg zu meinem Arbeitsplatz. Die Absätze von aufregenden Damen, die in Grandezza baden, trommeln kleine Märsche auf den Marmor und laden meine Libido auf. Über mir ein Kronleuchter, der auch Marlene Dietrich gefallen hätte. Ich lasse meine Finger auf dem Flügel parlieren und nehme die Seelenschwingungen der geschmackvollen Menschen auf, die in samtbezogenen Sesseln hundert Jahre alten Cognac trinken und mit ihren geerbten Füllfederhaltern in Tagebücher mit chamoisfarbenem Papier schreiben. Gelegentlich wirft mir eine glamouröse Schönheit einen Blick zu und nicht selten finde ich mich in ihrer Suite wieder. Wir baden im Strudel ihrer Wollust, den ich durch mein seelenerschütterndes Klavierspiel angefacht habe. Am nächsten Morgen finde ich einen handgeschrieben Dankesbrief auf dem Kopfkissen und spaziere anschließend mit einem Lächeln auf den Lippen durch den Park. Melodien liegen in der Luft, ich schnappe sie mir und komponiere flugs ein Streichquartett. Im Kopf, natürlich. Es ist alles fertig, irgendwann schreibe ich es auf. Wenn ich Lust habe.

So hatte ich mir mit Anfang 20 das Leben als Pianist in der Hotelbar vorgestellt. Es war in Wirklichkeit nicht ganz so schön. Ich verstand mich zwar als künstlerischer Heilsbringer, aber die allumfassende Verehrung und Liebe. die ich für angemessen hielt, perlte mir nur bedingt entgegen. Eines Abends beobachtete ich einen sehr wuchtigen Herren, der sich mit einer deutlich jüngeren Dame an den Tresen setzte. Sie war ungeheuer zierlich. Er wirkte auf dem Barhocker wie gepfählt, links und rechts hing sein Gesäß die Sitzfläche herunter. Er gestikulierte nah am Gesicht seiner jungen Begleiterin, die sich auf ihrem Hocker so weit zurücklehnte, wie es eben ging, ohne herunterzufallen.

Dann stemmte sich der große Mann vom Hocker hoch und keuchte sich in meine Richtung zum Flügel. Er nestelte in der Hosentasche seines Nadelstreifenanzugs und pulte einen Zwanzig-Markschein heraus, den er mir mit seiner fleischigen Hand auf den Flügel patschte. Verschwörerisch raunte er mir zu, er habe da ein Mädchen klarzumachen und ich möge doch bitte einen „Dosenöffner“ für ihn spielen. Man sollte sich als Musiker freuen, wenn Menschen an die Zauberkraft der Künste glauben. In diesem Augenblick war ich zwar überfordert, fand aber, dass man mit „Strangers in the Night“ nichts falsch machen kann.

Der Mann drehte sich zu mir, präsentierte seinen gereckten Daumen und kniff dabei ein Auge zu. Ich wollte mir die Szenerie, die ich begünstigen sollte, nicht vorstellen. Außerdem hielt ich das Vorhaben des heftig buhlenden Verehrers für aussichtslos. Also überführte ich den Bert-Kaempfert-Klassiker in eine Molltonart und ließ meine linke Hand schwere Akkorde in die Klaviatur hineinschreiten, die an Mozarts Requiem erinnerten. Es schien niemand zu merken. Die beiden hauten irgendwann ab, aber ich denke nicht, dass ich etwas geöffnet hatte, das zuvor verschlossen war.

 

1992 in der Pianobar des Bremer Marriott-Hotels. Die Fotografin hieß Alexandra, glaube ich.

An einem anderen Tag unterschätzte ich die Bedeutung der Hierarchie. Der für die Bar zuständige Chef war ein freundlicher Mann aus dem Umland, der mich mochte und großzügig mit mir war: es schien ihm nichts auszumachen, wenn ich mal eine Viertelstunde später zur „Arbeit“ kam. Er rief mich in einer Pause an den Tresen und erzählte stolzgeschwollen im Kreise des Barpersonals von seinem neuesten Coup: die Hotelleitung hatte ihn beauftragt, eine Getränkekarte extra für Champagner und Champagnercocktails anfertigen zu lassen, um diese teuren Drinks der verwöhnten Kundschaft des Hotels auf besondere Weise anzubieten.

Herr Freier (Name von der Red. geändert) hielt ein violettes Stück gefalzten Kartons in den Händen und sagte: „Herr Scheibe, Sie als Künstler, sagen Sie mal, hier, die Champagnerkarte! Wir brauchen hier doch keine Werbeagentur, wir haben hier selber kluge Köpfe, nicht wahr!“ Er reichte mir sein Kunstwerk. Auf einem DIN A4-Stück Pappe aus dem Copyshop fand sich rückseitig eine schiefe Schwarzweißkopie der Champagne (vermutlich aus einem Atlas), innen in Schreibmaschinenschrift die Getränke mit ihren Preisen. Man muss dazu sagen, dass man 1992 so etwas noch per Hand machen musste, wenn man nicht mit dem Art Director einer Werbeagentur, der wahrscheinlich Karl Lagerfeld ähnlich sah, kostspielig zu tun haben wollte.

Das Herzstück der Präsentierkarte war die Vorderseite: Dort hatte der talentierte Manager ein linealstrichgerahmtes Rechteck mittig platziert, in das er – auch mit Linealhilfe – ein geneigtes Trapezglas gezeichnet hatte, in dem aus einer Flüssigkeit kleine Bläschen emporsteigen. Die Bläschen waren Kreise, die der zum Grafikdesigner gewachsene Head der Abt. Schankwirtschaft mit Letra-Set-Bögen aufs Papier gerubbelt hat. Wer sich nicht erinnert oder einfach jung ist: in der Prä-Computer-Ära gab es nur die Schreibmaschine und Rubbelbuchstaben, die man einzeln und vorsichtig setzen musste. (Siehe Bild)

 

Letraset-Bögen. Foto: Paul Henning


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Letraset half dem Gestalter, der aus der Gastro kam, auch beim Verfassen der Überschrift: „Perlen fürs Prestige“ prangte da vorzüglich alliteriert über der Skizze des Getränks. Weiter unten folgendes Bonmot: „…denn die Feinen sind ebent überall.“

Da stand ich, mit der Karte in der Hand und sollte etwas sagen. Ich gab vorsichtig zu bedenken, dass Leute, die aus Prestigegründen etwas unternehmen, dies in den seltensten Fällen auch zugeben und dass „Perlen fürs Prestige“ vielleicht an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbeischlittert. Dass es mir außerdem so vorkäme, als ob der nach Schülerzeitung riechende Copyshop-Look des Objekts mit den Hochglanzartikeln auf dem Tresen stilistisch kollidiert. Ich sah Herrn Freiers Mimik an, dass er an meiner Kompetenz zweifelte. Das wurde nicht besser, als ich ihn sanft auf den in der Schriftsprache unüblichen Gebrauch der Vokabel „ebent“ hinwies.

Dann platzte dem Unternehmer allerdings der Kragen: „Sie haben ja keine Ahnung! Meine Verlobte ist Deutschlehrerin. Wollen Sie wirklich, dass ich sie anrufe und sie Ihnen erklärt, was richtiges Deutsch ist? Er hatte den Hörer dabei schon in der Hand und tippte hastig. „Mausi, ich bin’s. Hörmal, ebent ist doch ein ganz normales deutsches Wort, das schreibt man jawohl mit t!“ Eine kleine Weile verging. Hier und da sah man in den Gesichtern der Angestellten während der Telefonperformance des Vorgesetzten ein Lächeln, das sich vom Berufs-Smile aus der Dienstleistungswelt deutlich abhob. „Schau nochmal nach. Im Duden oder wo das steht! Das gibt’s doch nicht!“ Die Lage war vertrackt. Ich ging zurück zum Flügel und spielte „Words don’t come easy“ von F.R. David. Das Dutzend Karten, das Herr Freier für die Pianobar geschaffen hatte, stand noch ein paar Tage als skurriles Kunstwerk auf Theke und Tischen, allerdings am nächsten Tag schon geschmackvoll mit Tipp-Ex retuschiert. Jetzt waren die Feinen nur noch eben überall. Zur Veranschauung habe ich das originellste Stück Getränkereklame aus der Geschichte der Vier-Sterne-Hotels aus der Erinnerung nachgezeichnet:

Aus der Erinnerung abfotografiert.

Einen Tag später fand ich einen Brief aus der Chefetage auf dem Flügel, der mich zur Einhaltung der Arbeits- und Pausenzeiten ermahnte. Herr Freier ignorierte mich fortan mit weltmännischer Gelassenheit. Nicht nur aus Prestigegründen hatte ich den Barpianistenweg dann beendet, es war halt fast nie so wie in meiner Phantasie. Jetzt sitze ich im schönen Hotel Art Nouveau beim Nachmittagschampagner. Hotelier Ingo Bethke kommt und rein und lobt meinen Smoking. Ich sage: „Die Feinen sind ebent überall!“

Mark Scheibe

 

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