SCHLÜSSEL ZUM GLÜCK

Meine Fingerkuppe küsst das polierte Chrom des Klingelknopfs in der Leibnizstraße 59, die Tür summt eingangsbereit. Die abgelaufenen Ledersohlen meiner Lackschuhe schaffen gerade noch ein dezentes Hallen im Marmortreppenhaus, dann steige ich in den Drahtverschlag von 1907. Er birgt eine Liftkabine, die mehr an die Gondel eines Riesenrads erinnert als an einen Aufzug. Langsam knarrt das hölzerne Gewerk das Stiegenhaus empor. Oben im vierten Stock schimmert heimeliges Glühlampenlicht. Dort empfängt mich Hoteldirektor Ingo Bethke und drückt mir im Frühstücksraum mit seinen großen Fenstern und der viereinhalb Meter hohen Stuckdecke den schweren Zimmerschlüssel in die Hand.

Zurzeit mag das noch halbwegs gebräuchlich sein, aber in ein paar Jahren wird so einem richtigen Schlüssel das Charisma eines Wählscheibentelephons zugeschrieben, ganz bestimmt. Ich wünsche mir, dass dieses Schlüsselbund nie einer Chipkarte weicht, auch wenn das Ungetüm jedesmal die Form meiner Anzugshosen zerstört. Ich lasse das Metall auf die Leinentischdecke gleiten und hole mir einen Drink. Dass die Weingläser einen kleinen klirrenden Tanz aufführen, wenn man an übers knarrende Parkett an ihnen vorbei läuft, macht die Stube zur Partnerin: sie lässt hören, ob ich ein eleganter Flaneur bin oder ein grobmotorischer Ballentrampler. Der Raum reagiert – sitzt man nachts miteinander beim Wein, will man ganz selbstverständlich leise sein, weil das Interieur mitschwingt und man die Kraft seiner eigenen Existenz gespiegelt bekommt.

Der Fahrstuhl im Hotel Art Nouveau: In Zeitlupe durchs Stiegenhaus

Urlaub von der Reizüberflutung

Die Resonanz mit den Dingen ist etwas so Wohltuendes, ein Urlaub von der Reizvielfalt des Visuellen und der Reizarmut immer gleicher Mail- und Klingeltöne. Der völligen Ignoranz moderner Medien gegenüber haptischer Lust, olfaktorischer Neugier und dem Abenteuerwunsch, Räume hörend zu erkunden. 

Im Hotel Art Nouveau begegne ich dieser Patina, bleibe staunend vor Details einer Holzvertäfelung stehen und stelle mir den Kunsthandwerker des frühen 20. Jahrhunderts vor, wie er im Schein der Gaslampe seine feine Arbeit verrichtet – frei von neumodischen Ablenkungen. Ich stehe vor Kohlezeichnungen unbekannter Ahnen und lese die Herausforderungen eines historischen Jahrhunderts in den Mienen der Porträtierten. Dann sehe ich wieder die Augen dieses mutigen Hoteliers blitzen, der sein Haus mit Vertrauen, Neugier und der unbändigen Lust führt, Menschen zu begegnen, woher sie auch immer kommen. Lächelnd erkenne ich, der Schlüssel zu meiner Suite ist ein Schlüssel zum Glück.

Mark Scheibe

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