SUIZID UND EISKAFFEE:  AM WALTER-BENJAMIN-PLATZ

Ich sitze bei 32 Grad  an einem Cafétisch auf sonnenbedampften Granitplatten und warte auf die Kameramänner Axel Decker und Ben Gothe, die gleich das Musikvideo zu meinem Lied „Annabella totale“ drehen. Ich fühle mich auch wegen des klimakonträren Smokings und der Lackschuhe hier wie in einem surrealen Film.

Links und rechts ragen überhohe neoklassizistische Bauten in den Berliner Sommerhimmel. Zwischen den massiven Fassaden sind Leinen gespannt, von denen in etwa zehn Metern Höhe eiscremebunte Regenschirme hängend herableuchten. Mein Blick taumelt zwischen den Säulen der hundert Meter langen Kolonnaden, die den Platz flankieren – und fällt immer wieder auf die Fontäne, die ständig ihre Gestalt ändert.

Gleich werde ich im Fokus der Filmkamera elegant ins sprudelnde Wasser tänzeln und den Springschauer feiern, als wäre das Wasser flüssiges Glück, dabei den Beat von „Annabella totale“ imaginierend: In meinem Lied betet ein chancenloser Eiscaféstammgast die dort arbeitende Annabella an und versucht sie mit ein paar rasch gelernten Ristorante-Vokabeln zu beeindrucken. So klischeehaft die ungeschickten pseudo-italienischen Worte des Verehrers klingen, so naserümpfend nehmen Architekturjournalisten die römisch anmutenden Säulen hier wahr: „Ciao, Annabella amore, con passione, per favore – wow! Sie sagt ‚allora‘, bella voce, la Signora!“

Die Gesetzlosigkeit der Kinder in Charlottenburg ist eine helle Freude.

BELLA ITALIA IN BERLIN

Der Platz mit den Mauern aus italienischem Sandstein ist nach dem Philosophen Walter Benjamin benannt. Seine Geschichte ist nicht halb so happy wie der Sound von meinem Neoschlager: Erst wurde seine Fläche von Stadtplanern Ende des 19. Jahrhunderts einfach übersehen. Dann diente das Grundstück als Kohlenlager, Barackenfläche für Zwangsarbeiter, Vergnügungsareal, Eislaufstadion und Parkplatz. Entwürfe von Architekten wurden von Bürgerinitiativen verhindert, eine Überdachung war einmal fast final, dann sollten Sozialwohnungen entstehen und dann doch nicht. Im Jahr 2000 wurde der Platz dann so wie er heute ist, und nicht nur der „Spiegel“ schimpfte: „Nazi-Architektur!“ 

Irgendwie passt dieser Platz zum chaotischen Leben von Walter Benjamin, der mit Brecht und Bataille, mit Arendt und Adorno abhing, und das voller Ambivalenz: mal war er Kritiker, mal Philosoph, dann schrieb er Reiseberichte, nahm psychedelische Drogen auf Ibiza, flüchtete vor den Nazis durch ganz Europa und nahm sich 1940 zermürbt das Leben. Was nicht belegt ist, weswegen der Zweifel an seinem Suizid Filmstoff geworden ist.

Ob der obsessive Annabellafan wegen Annabellas Abweisung auch mit dem Freitod flirtet? Fragen Sie die Fantasie, tanzen Sie in Fontänen, lesen Sie Walter Benjamin. Sein Buch „Berliner Kindheit um 1900“ liegt ab heute auf dem Büchertisch im Frühstücksraum des Hotel Art Nouveau und freut sich, in neugierige Hände genommen zu werden.

Mark Scheibe

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