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Der portable Palast für verwöhnte Städter
In Berlin findet sich das vornehme Boudoir in derselben Nachbarschaft wie die verwahrloste Anarchist*innen-WG. Ein Beautysalon für Millionärinnen gleich neben der Gaststätte mit dem Namen „Klo“, in dem sich Ausscheidungsfetischisten ihr Pils unter Gleichgesinnten schmecken lassen.
Eine Modedesignerin sagte mir einmal, sie betrachte Kleidung als die kleinstmögliche Form des Zuhauses. Die Klamotten sind in Berlin so unterschiedlich wie die Zuhauses: die vermüllte Messibude findet ihre Entsprechung in nachlässiger 24-Stundenkleidung im unprätentiösen Anstaltstil. Das Gated-Community-Penthouse hat sein bescheiden wirkendes Kostüm, das ein Vermögen kostet, als modisches Pendant. Passivhäuser riechen nach der verdächtigen Mode aus dem Manufactumkatalog.
Als Einzelkind bin ich es gewohnt, im Zustand reichlicher Fürsorge zuhause zu sein. Aus dieser Perspektive ist Berlin immer eine Zumutung. Wie recht die Designerin mit ihrer Zuhauseanalogie hat, wurde mir eines Abends klar: mit schwer beladenen Papiereinkaufstaschen stieg ich am Bahnhof Gesundbrunnen aus der U8, ich wohnte damals irrtümlicherweise im Wedding. Zuvor hatte ich eingekauft, um für Annabella (Name v. d. Red. geändert) zu kochen, die mich später besuchen würde.
Wenn man Schwierigkeiten hat, sich zuhause zu fühlen: ein Sonnenschirm bietet eine zugespitzte Form der Geborgenheit. (Nur zur Zwischenmiete)
Als ich schon den Kellerduft der U-Bahnschächte hinter mir gelassen hatte und über die Fliesen des Eingangsbereichs nach draußen ging, passierte es: eine der Papiertüten riss, der halbe Einkauf breitete sich auf den grünen Kacheln des Bahnhofs aus. Frischer Knoblauch rollte umher, ein Joghurtbecher platzte und verteilte sein mattes Weiß an meinen Hosenbeinen. Die Tüte mit den Cherrytomaten fächerte ihr wohlduftendes Fleisch in alle Richtungen und sorgte für tiefrote Flecken unter mancher hektischer Sohle. Eine indische Mango hat es um die halbe Welt geschafft, um jetzt ihre finalen Meter Richtung Rolltreppe zu rollen. Auf den metallenen Gitterstreben riss sie auf und ihre orangefarbenen Fasern schmatzten den Blues eines nutzlosen Jetsetlebens.
Ein paar lose, handgezogene Kerzen kullerten wie ein Ensemble Dynamitstangen sternförmig umher und sammelten den Schmutz des Tages. In Sekunden wurde ihr Weiß chamois, dann creme, dann bräunlich, schließlich ganz müllschwarz. Der große Salatkopf hatte schon Suizid begangen, in einem Pfützchen mit Erbrochenem.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Das alles war aber nur die apokalyptisch orchestrierte Begleitmusik für die wirkliche Sauerei: die Flasche mit steirischem Kürbiskernöl zerschellte auf dem Pastellgrün der historischen Fliesen im Wedding. Wenn es einen Berliner Bezirk gibt, an dem der hippe Mittevirus einfach nichts zum Erregen findet, dann dieser. Seit Jahrzehnten ist davon die Rede, der Wedding „käme“. Die Gegend um den sogenannten Gesundbrunnen aber kommt nicht. Sie ist einfach nur da. Mit proletarischer Stoik führt sie das offizielle Dogma Berlins ad absurdum, die Stadt sei immer im Wandel.
Das krachende Desaster wurde von ein paar Bezirksbewohnern an Stehtischen vor dem Bahnhofsimbiss mit Empathie kommentiert. „War wohl nüscht mit romantischet Dinner bei Kerzenlicht, wa!“ rief einer der Herren mit den vielen Feierabendbieren. Ein anderer freute sich regionaltypisch hochsensibel über den Joghurt auf meiner Bügelfalte: „Jetz haste Dreck am Stecken wie jeder andere ooch hier!“
Nachdenklich am Steinway sitzen: am besten im Smoking.
Meine Lackschuhe und der dunkelblaue Zweireiher von Herr von Eden waren meine schützende Festung: mit dieser kontrazeitgemäßen Kleidung konnte ich das Schlachtfeld meiner zerstörten Abendgestaltung verlassen, ohne dass meine Würde so wie der Salatkopf endet. Außerdem konnte ich durch meine modische Entschlossenheit vermeiden, dass die hämischen Grobheiten mein Innerstes erreichen und ich tagelang die Decke über den Kopf ziehen müsste. In aller Erhabenheit schritt ich also an den beiden Gourmets mit den flotten Sprüchen vorbei, um das Wurstbudenpersonal um eine Schaufel und etwas zum Wischen zu bitten. Ich beseitigte die Spuren der Feierabendkatastrophe und gab das Werkzeug zurück. Mein Anzug war dabei mein innerer Altbau mit 5 Meter hohen Decken, das Einstecktuch der Kronleuchter. Der portable Palast. Der Salon zum Mitnehmen.
In Jeans und nach Geruch aussehenden Schlurfchucks hätte ich mich unter diesen milieuüblichen verbalen Liebkosungen wie ein Kretin gefühlt, der zu blöd ist, seine Einkäufe nach Hause zu tragen. Der nicht verdient hätte, geliebt zu werden – wen auch immer er da zu einem Essen mit überteuerten Zutaten in seine Bude hineingequatscht hat. Die Ausgaben für die Therapeutin wären dann so explodiert wie gerade die Heizkosten. Seitdem trage ich nur noch den Salon to go – das adäquate Kostüm für verwöhnte Städter. Braucht auch kein Gas, wird allein durch Haltung warm.
Mark Scheibe
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Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.
Übers Aushalten
Ich schreibe gerne Songs. Ich höre hin und wieder, dass meine Lieder aus einem Stimmungstief heraushelfen oder ein Lächeln hinzaubern, wo zuvor ein Grollen war. Das leitet mich und gibt mir das Gefühl, einer sinnvollen Beschäftigung nachzugehen. Früher war das anders: da habe ich gern Lieder gesungen, die polarisierten und immer auch ein bisschen Ärger machten. Ein in dieser Hinsicht erfolgreicher Song war der „Unterschichten-Bossanova“, in dem ich eine bildungsferne Horrorfamilie karikiert habe.
Auf eine von französischer Eleganz gestreichelten Champagnermelodie sang ich: „Justin ist zweieinhalb und hat Übergewicht. Seiner Mutter ist das egal und Justin weiß es noch nicht. Justins Schwester Nadine, zwölf Jahre, zur Zeit im Methadonprogramm, ist mal wieder schwanger, was ja auch passieren kann. Der Vater wusste zunächst nicht, wie er reagieren solle. Bis Nadine ihm sagte, dass das Kind wahrscheinlich von ihm war, und sie es haben wolle.“ So nimmt das Drama seinen Lauf, bevor es heißt: „Das ist der Unterschichten-Bossanova auf dem noch nicht bezahlten Versandhaussofa.“ Ich habe die Prekariatsdystopie absichtlich im tropisch inspirierten Easy-Listening-Sound komponiert. Der Berliner Radiosender „Fritz“ bekam dafür vorwurfsvolle Hörerbriefe. Zum Glück gab es keine Kulturpolizei, die das verbieten konnte.
Auch zu einem Reizthema wurde die Ballade „Du bist so schön, wenn ich besoffen bin“. Darin ging es um eine Beziehung, die nur im Schatten der Nacht stattfand, und die tagsüber, nüchtern betrachtet, keine Chance hatte. Ein Veranstalter bekam deswegen Wutpost: er sollte einem niveaulosen Schnulzensänger wie mir mit seinen menschenverachtenden Gehässigkeiten keine Bühne bieten. Danke, lieber Veranstalter, dass ich auch heute noch bei dir auftreten darf.
Für mein Lied „Soz.-Päd.-Ute“ bakam ich von der Taz eine journalistische Ohrfeige verpasst. Mit der total überspitzten Parodie einer politisch überkorrekten Dauerstudentin, die im Mauerpark Bongos spielt, um die Afrikanerin in sich zu finden, machte ich mich in den Augen der Zeitung zu einem „antifeministischen Deppen“. Ich danke hiermit der tazlesenden Allgemeinheit, dass sie trotz dieser Schmähung von Drohbriefen abgesehen hat.
Ein verschlafenes Dorf in den französischen Alpen. Hier lässt es sich aushalten.
Ich spielte auf Konzerten auch das verbotene „Horst-Wessel-Lied“. Wer es nicht kennt: auf eine Melodie aus dem 19. Jahrhundert schrieb ein mit überschaubaren poetischen Fähigkeiten ausgestatteter Nationalsozialist einen blutschwülstigen Kampftext. Damit machte er das Lied zur Parteihymne der NSDAP. Folgerichtigerweise ist diese seit 1945 verboten, genauso wie das Tragen von Hakenkreuzen. Das reizte mich. Ich arrangierte den Song im soften Karibiksound und sang ihn im Duett mit einer französischen Sängerin mit starkem Akzent. Ich bin froh, dass man so etwas hier machen kann.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Sexuelle Gewalt in Familien ist der Horror. Wer sich damit beschäftigt, verabscheut womöglich meinen Unterschichtenbossanova. Und hält aus, dass es ihn gibt. Ich halte aus, dafür als zynisch und ignorant beschimpft zu werden, auch wenn es schmerzt.
Für die Taz-Autorin war ich eine Zumutung. Sie hielt mich einen ganzen Abend lang aus. Das war bestimmt hart für sie. Ich halte aus, von ihr öffentlich herabgewürdigt zu werden.
Wir schätzen uns gegenseitig gering, aber wir bringen uns nicht um. Ich fordere die Redaktion nicht auf, ihre Mitarbeiterin zu feuern und sie sammelt keine Unterschriften für ein Auftrittsverbot. Wir kommen mit unseren gegensätzlichen Meinungen, Haltungen und Geschmäckern klar. Ich bin froh, in einer Gesellschaft zu leben, die sich verpflichtet hat, einander auszuhalten.
Mark Scheibe
P.S.: Wer die Taz-Autorin verstehen will, hört Soz.-Päd.-Ute auf Spotify
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Der pornographische Hebel
Ich liebe Logik! Wie wundervoll ist Wissenschaft! Die mechanische Wucht der Kausalität, wenn eine Handlung Konsequenzen hat. Die Verlässlichkeit einer Hebelanwendung. Von beeindruckender Folgerichtigkeit ist der mediale Lichtkegel, der gerade auf das bescheuerte Lied „Layla“ fällt. Was für eine bemerkenswerte Öffentlichkeit! Da kann man als Songschreiber nur neidisch werden. Als empörte Gesellschaft verhelfen wir gerade den beiden Partypäpsten Dj Robin und Schürze zu astronomischen Einnahmen. Mit einer Ohrfeigenmelodie aus den dunkelsten Kellern der Musikerfindung schaffen sie den Gegenwert einer sonnendurchfluteten Dachgeschosswohnung in Berlin-Mitte. Vorderste Chartsplatzierung dank großer Aufregung! Ich bitte um Entschuldigung, dass ich jetzt auch noch ins Horn stoße, aber ich muss. Es ist einfach zu schön.
Was macht hier den Hype aus? Die beiden Ballermannbarden im Glück texteten „Die Puffmama heißt Layla, sie ist schöner, jünger, geiler“ und das Feuilleton faucht. Feministinnen fluchen. Sie beklagen die grölende Hässlichkeit, in der Männer wieder einmal Frauen „begutachten“. Ich verstehe das.
Die drei Besoffskis (70er Jahre) waren nicht weniger grob. Damit argumentieren auch die gerade sehr wohlhabend werdenden Produzenten. In „Olé, wir fahr’n in’ Puff nach Barcelona“ heißt es „Wir bumsen hier, wir bumsen da, tausend nackte Weiber auf dem Männerpissoir“. Nicht gerade eine adäquate Verherrlichung der Frau. Gunter Gabriel dichtete „Mädchen ab 30 lieben am besten, das musst du unbedingt mal testen“. Damals belächelte man den Truckerpoeten für seinen peinlichen Connaisseur-Song, der Frauen zu Mädchen und diese zu einer Art kulinarischer Ware macht, die man sich mal besser genauer unter die hungrige Lupe nimmt. Dann projizierte er auf die 30-jährige Frau (heute: „Milf“) noch das Bild einer Aufpassmutti, die einen vor Dummheiten bewahrt: „Sie fahren dich, wenn du blau bist, von der Party heim. Sie retten deinen Ruf und deinen Führerschein.“ Das schien niemanden sonderlich aufzuregen. Wer wollte, hörte sich das an. Wer nicht, wechselte den Radiosender.
Der Autor als 15-jähriger. In dieser Lebensphase hätte ihm das Lied „Layla“ sicher noch mehr Spaß gemacht. Photo: Mona M.
Das war die Zeit, in der Vibratoren noch Massagestäbe hießen. Im Versandhauskatalog sah man eine lächelnde Frau, die sich das Sexspielzeug, das so noch nicht heißen durfte, lächelnd an die Wange hielt. Den Gegenstand fand man unter der verklemmten Überschrift „Ehehygiene“ auf der Seite mit den Kondomen und Pornobüchern in Literaturverkleidung.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Was für eine unbeholfene Zeit das war! Und heute? Sollten wir nicht gelassener sein? Wir leben doch nur, weil unsere Eltern einander geil fanden. Wir wurden auf die Welt gefickt. In unserer DNA wohnt eine Orgie. Von Begierde gepeitscht warfen sich unsere Eltern aufeinander. Sie waren angesichts der Aussicht auf lusttrunken machenden Sex bereit, einander um den Verstand zu vögeln. Vielleicht haben sie sich auch gegenseitig objektifiziert, das passiert manchmal im Endorphinrausch des Verlangens. Dessen sollten wir uns gewahr sein, finde ich. Und aushalten, dass wenig feinsinnige Betrunkene und kalkurierende Produktdesigner das in erschreckender Schlichtheit auf den Punkt bringen.
Das Lied „Layla“ wird irgendwann im Schatten historischer Playlists verschwinden. An die Künstlerin Layla Darboe aber erinnert man sich wahrscheinlich auch noch in 20 Jahren: Sie croont in „Creamy“ über einen Mann, den sie mag: „Er leckt mich, zeigt mir Gratitude, fickt mich, bringt mir Lemon Juice. Checkt mich, ja, er kennt mich gut.“ Das klingt bei ihr sehr magnetisch und bei aller Expliziertheit wie moderner, lustvoller Soul. Und nicht so, als hätte man die Akteure eines schnapsgebeizten Junggesellenabschieds mit Koitusversprechen zum Singen überredet.
Mark Scheibe
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Annabella zieht um
Annabella (Name v. d. Red. geändert) streicht ihre Wohnung in Neukölln. Als Einzelkind weiß sie zu schätzen, wenn man sich um sie kümmert. Der Bezirk Neukölln versprüht so gar keine Fürsorglichkeit. Sie zieht in ihren Wunschbezirk Charlottenburg, denn Neuköllns Restaurants haben keine Kronleuchter. Austernbars findet man nirgends, fast nie steht ein ordentlicher Champagner auf den Getränkekarten der lokalen Gastronomie.
Das ist natürlich ein enormer wohnkultureller Niveauzuwachs: vom weltberühmten Gangsterbezirk, dessen Straßen von alten Kühlschränken, durchgesessenen Versandhaussofas und zerbrochenen Spanplattenschränken dekoriert sind, in den schicken alten Westen! Wo knapp volljährige Models großzügige „Sugardaddys“ zum Kauf von Pradaschuhen und Birkin-Bags inspirieren. Wo das seidene Halstuch nie an modischer Aktualität verloren hat. Der Ku’damm bildet die Bühne für wohlhabende Erfolgsdarsteller, denen die internationale Hipness von Mitte und Prenzlauer Berg kein Zuhausegefühl vermittelt. Auch, weil der Chauffeur dort für den Porsche Cayenne noch nicht mal einen freien Behindertenparkplatz findet.
Annabella hat ihr neues Zuhause über eine Wohnungstauschagentur gefunden. Ich hatte es für aussichtslos gehalten, Leute zu finden, die ihre Wohnverhältnisse durch einen Bezirksdowngrade freiwillig verschlechtern würden. Die meisten Menschen sehnen sich mit zunehmendem Alter nicht nach noch mehr Hundefäkalien vor der Haustür. Auch die Faszination für brandneue Einschusslöcher in den Fassaden lässt in der Regel nach. Zu wohnen, wo Polizisten Todesangst haben, wenn sie mal nach dem Führerschein fragen, ist für Dauerteenager in ihren Zwanzigern cool, wenn sie einen Unterweltfetisch haben. Der verliert aber meist nach einer Weile an Magie. Vor allem, wenn die eigene Kriminalität gerademal ausreicht, dem Jobcenter Nebeinkünfte aus privatem Cannabisverkauf zu verschweigen.
Annabella (Abbildung ähnlich)
Annabella also hatte Glück: einem Paar, das sich am Savignyplatz underdressed vorkommt und das mit dem Personal in Cafés lieber Englisch spricht, ist aus Versehen vor ein paar Jahren im Erwachsenenstadtteil mit dem großen Zoo gestrandet. Die Freunde des Paares sind bärtig und trocknen ihre Skinnyjeans in Kreuzberger Altbauten. Freundinnen leben in Sonnenallee-WGs und teilen sich die Tische für ihre Macbooks in Coworkingspaces am Hermannplatz. Die beiden haben einen ganz anderen Blick auf die Gegend mit der hohen Kriminalitätsbelastung. Für sie haben die Künstler des alten Berlin ihre Anziehungskraft verloren.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Sie wollen nicht mehr leben, wo Erich Kästner dichtete, dass an allem Unfug auch die schuld sind, die ihn nicht verhindern. Sie sehnen sich nach Neukölln. Dort feilt zum Beispiel Rapper Crystal F. an seinem Werk und schmiedet Zeilen wie „Ich pump’ wie ein Gestörter gleich Kugeln in dein’ Körper“. Auch das etwas kryptische Bonmot „Ich füll’ dein Blut in ein Kondom ein und schick’s deiner Mama aus Bosheit“ stammt vom Neuköllner Poesiegrenzgänger mit dem polarisierenden Künstlernamen.
In Charlottenburgs Kaiser-Friedrich-Straße schrieb Robert Walser „Man passt dahin, wohin man sich sehnt.“
Wie schön, dass hier Platz für uns alle ist. In Berlin.
Mark Scheibe
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Der Horror mit dem Glückskeks
Auf der Nordseeinsel Spiekeroog grüßt man mit „Moin“. Hier lebt es, das Klischee des „Friesisch-Herben“, mit dem die Jever-Brauerei seit Ewigkeiten wirbt. Wortkarge Lebensmeister, die dir die Wahrheit ungeschnörkelt ins Gesicht rufen, während sie, von einer Orkanböe unbeeindruckt, eine Krabbe pulen.
Ich spaziere mit Annabella (Name v. d. Red. geändert) durchs Dorf, vor uns läuft ein Mann, Mitte 50. Seine Körpersprache orientiert sich an Kerlen, die sich nichts vormachen lassen. Seine filterlose Zigarette hält er zwischen Daumen und Ringfinger. So wie auf dem Schulhof früher – in dieser Haltung kann die Kippe schnell in der Hand verschwinden. Die schwarze Jeans umkleidet Beine, die wissen, wie ein Pferd zu bändigen ist. In tiefen Kinnfalten vergrabene Mundwinkel berichten von einem Leben, in dem es nichts zu lachen gibt. Ein eisiger Blick verkündet die Bereitschaft, für die eigenen Ideale zu sterben. Auf der Rückseite seines T-Shirts prangt: „You better learn to fucking live.“
Auf der Restaurantterrasse des Hotels zur Linde gibt es statt Labskaus und Bratkartoffeln ein Trüffelspinatrisotto an Parmesanschaum. Klingt nach prätentiöser Mützenchväterküche von bärtigen Berlin-Mitte-Stuttgartern, schmeckt aber köstlich. Annabella und mir entgleiten, weil es so lecker ist, Geräusche, die von benachbarten Gästen als pornographisch eingeordnet werden dürften. Die Wirtin beeindruckt das nicht. In nordseebarschem Platt sagt sie: „Ihr hedd’ ma letz Jaa herkomm solln. Do had wi fermentierte Tann’zapfen!“
Szene mit Originalkeks nachgestellt.
Mit dem Espresso bringt sie uns überraschenderweise „Glückskekse“, wie man sie sonst in „Kim’s Shanghai-Bistro“ nach der 96 ohne Fischsauce bekommt. Gern liest man mit vollem Magen dann wohltuende Worte wie „Jede Minute, die man lacht, verlängert das Leben um eine Stunde.“ oder andere Klugheiten aus dem Morgenland – und nimmt sie persönlich. Ich breche also meinen Keks auf und freue mich auf eine gutverdauliche Bestätigung meiner angeborenen Überheblichkeit. „Wer nicht auf den hohen Berg steigt, kennt die Ebene nicht.“ würde jetzt gut passen. Auch ein ermutigender Schulterklopfer für meine Harmoniesucht wäre angenehm: „Wende Dein Gesicht der Sonne zu, dann fallen die Schatten hinter Dich.“
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Der Spiekeroog-Keks aber ist anders geladen. Hier schmeichelt mir nicht Konfuzius den längst bekannten Konsens um die Ohren. Hier knallt der Klabautermann persönlich die Keks-Aphorismen aufs Papier: „Man soll das kleinere Übel nehmen.“ lese ich erschüttert. In meinem satten Körper stürzt gerade eine Seele ins Nichts. Was soll das bedeuten? Annabella erwischt es nicht besser: „Kümmer dich nicht um Angelegenheiten anderer Leute.“ hält sie, auf einen kleinen Papierstreifen gedruckt, in ihren Händen. Wir erblassen. Was für Gemeinheiten schlummern da noch im Innern importierter Weizencookies? „Spiel dich nicht so auf, so toll bist du auch nicht.“ oder „Für dich gibt es keine Extrawurst.“? Vielleicht „Glaube nicht den Schmeicheleien deiner sogenannten Freunde – in Wirklichkeit bist du hässlich.“?
Verbale Grausamkeiten aus der Strafvollzugsabteilung der Sprichwortbranche tauchen die Abendidylle in ein finsteres Licht. Als übersensible Großstädter suchen wir nach dem Sinn der herzlosen Zurechtweisungen nach dem Abendessen. Wir fragen uns, ob die Wirtin weiß, wes Kekses Kind ihre Kaffebeigaben sind. Und ob der kantige Frieslandcowboy in seinem Leben Leute hat, um deren Angelegenheiten er sich kümmern kann. Beim Abendspaziergang begegnet uns ein gutgelauntes Seniorinnengrüppchen mit Motto-T-Shirts: „Die Klapse hat heut Wandertag“. Da ist das kleinere Übel der Textilbeschriftungen wohl: You better learn to fucking live.
Mark Scheibe
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Denkerpose im offenen Hemd
Morgen probt ein Orchester Filmmusik, die ich komponiert habe. Komponieren geht so: Man zieht sich an, als ginge man zu einem großen Fest, zum Beispiel dem Geburtstag der Queen. Dabei überwindet man die Angst, „overdressed“ zu sein. Man setzt sich nun bequem auf einen großzügigen Stuhl. Es schadet nicht, wenn dieser einem Thron ähnelt. Nun rutscht man mit dem Gesäß Richtung Stuhlkante, sodass der Körper unter einer beeindruckenden Spannung steht. Nun legt man die linke Hand angewinkelt auf den linken Oberschenkel, platziert den rechten Ellenbogen eine Handbreit hinter dem rechten Knie, ballt eine Faust, beugt diese und stützt sein Haupt mit ihr.
Diese Pose ist eine dramatische Interpretation der Skulptur „Le Penseur“ (Der Denker) von Auguste Rodin. In dieser Haltung wächst der Selbstrespekt schnell, man beginnt sich während Selbstgesprächen schon nach kurzer Zeit zu siezen. Das ist wichtig: wer für die Ewigkeit komponiert, braucht Manieren, ansonsten wird das nichts. Die inneren Wächter der Umgangsformen sorgen dann dafür, dass mentale Störenfriede (ablenkende Gedanken, Zeitgeistquatsch) draußen bleiben. Nerviges Gehirnpersonal ist auf dieser Feier nämlich unerwünscht. Weder die Herren Selbstzweifel und Aufschub noch Madame Hoffnungslosigkeit, Frau Lähmung und Signora Angst sind eingeladen. Auch alle kleinen hässlichen Internet-Teufel aus dem sogenannten Telefon haben unter ihresgleichen zu bleiben oder sich andere Opfer zu suchen, die sich die Zeit stehlen lassen.
Das ist die Vorbereitung. Nun stellt man sich sämtliche Töne vor, die es gibt. Nacheinander hört man diese in der Vorstellung durch. Nur diejenigen Töne, die einem eine Gänsehaut spendieren, behält man. Alle anderen werden aussortiert, davon können Resteverwerter noch prima Musik für Warteschleifen zusammenleimen. Nun müssen die ausgewählten Töne nur noch in die richtige Reihenfolge gebracht und den Instrumenten im Orchester zugewiesen werden. Der Rest ist Sache der Musiker und der Dirigentin.
„Le Penseur“ von Auguste Rodin. Hätte der Bildhauer seinem Denker noch ein offenes Hemd geschmiedet, hieße seine Skulptur vermutlich „Le Compositeur“. Das mit dem Faltenwurf war dem Meister aber wahrscheinlich zu schwierig. Deswegen: nur ein Denker. Foto: Wikimedia Commons
In der letzten Ausgabe der Geheimtipp-Talkshow „Thadeusz & die Künstler“ war die Dirigentin Christiane Silber zu Gast. Da gerade kein Symphonieorchester zur Hand war, komponierte ich eine Art Sprechmusik, die von den Talkgästen aufgeführt wurde, unter dem Dirigat von Frau Silber. Man sieht und hört Jörg Thadeusz und die Schauspielerinnen Sophie Rois und Liv Lisa Fries hochkonzentriert rhythmische Texte vortragen. Posaunist Sebastian Krol und Sängerin Anna Depenbusch haben richtige Noten bekommen und musizieren intensiv. Ich empfehle das! Ein Link zur ARD-Mediathek befindet sich am Ende dieser Kolumne.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Mit Sophie Rois verbindet mich die Neigung, das Hemd soweit aufzuknüpfen, dass Polarisierung entsteht. In der Sendung haben wir aus reiner Euphorie beide noch einen Knopf mehr geöffnet. Dies ist ein Nebeneffekt der durch Musik ausgelösten Freude, hier hat sie sich schon vor der Aufführung ereignet, als Vorabreaktion. Ich schwöre, die Komposition nach der oben beschriebenen Methode angefertigt zu haben. Die übriggebliebenen Töne sind mir zum Glück noch nicht wiederbegegnet. Ich hoffe, sie sind nicht in der Warteschleife der Telephonnummer vom Buckingham Palace gelandet.
Mark Scheibe
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Zufälliger Untergang
Lachmöwen kreisen über meinem Kaffeetisch, die White Cliffs of Dover reflektieren ein magisches Licht auf den flaschengrünen Atlantik. Heute morgen briet ich in britischen 32 Grad Celsius, ein paar Stunden später biss mir ein eisiger Regenwind durch das zuvor nassgeschwitzte Smokinghemd. „Weather is a third to place and time“– dieser Satz des britischen Poeten Ian Hamilton Finlay prangt in ozeanblauen Lettern auf dem historischen Leuchtturm hier in Folkestone. Das menschliche Leben findet in Raum und Zeit statt – das Wetter erst sorgt für Drama.
Vor einer Woche saß ich in Berlin-Charlottenburg beim Notar. Es ging um den Verkauf einer Wohnung. Der Notar verlas den Kaufvertrag, ließ Vokabeln wie „Zwangsvollstreckungsunterwerfung“ so beiläufig klingen, als könnten sie nicht „harte Zeit in dunklem Raum bei nicht wahrnehmbaren Wetter“ bedeuten und klärte mich und die Käufer über die Bedeutung anderer theatralisch klingender juristischer Termini auf: „Preisgefahr“, „Gefahrübergang“ oder „zufälliger Untergang“. Ein zufälliger Untergang ist, wenn die Herausgabe einer gekauften Ware oder Leistung durch höhere Gewalt unmöglich geworden ist, zum Beispiel durch Überschwemmung, Pandemie, Atomkrieg oder Blitzeinschlag.
Immer mehr vom Donner der Liebe gerührte Paare verzichten beim Heiraten auf religiöses Personal. Humanistische Ehezeremonien werden immer gefragter. Diese Rückläufigkeit des Glaubens an die Kirche als moralische Instanz kann nur als zufälliger Untergang verstanden werden, schließlich haben wir es bei religiösen Fragen von Haus aus mit höherer Gewalt zu tun.
Aus diesem Grund schwitze ich heute nicht nur wegen der Hitze. Ein befreundetes Paar wünscht sich morgen von mir die Zelebrierung ihrer Jahrhundert-Traumhochzeit. Nach einem Jahr Leben im Hotel soll ich also bereit sein, moralische Autorität zu verkörpern. Zwei ohnehin schon hochemotionalisierten Liebenden den salbungsvollen Pastorenton nebst Kirchenorgelerdbeben ersetzen?
Ich habe schon vergeblich ein Papstkostüm aus dem Mittelalter gesucht, das von meiner Unsicherheit in der Rolle des kirchenlosen Geistlichen ablenkt. In einem leerstehenden Trakt des Hotels, dessen Akustik entfernt an den Petersdom erinnert, versuche ich mich in überweltlichen Sprachmelodien, ganz ohne adäquates Gewand. Außerdem übe ich Gesten, die in ihrer Langsamkeit und Größe nur als Offenbarung einer höheren Macht verstanden werden können, während ich die Begriffe „Love“, „Commitment“ und „Decision“ wie Detonationen der Güte klingen lasse. Dass die Zeremonie auf Englisch zu halten ist, macht sie nicht einfacher. Ich spiele mit Kontrasten: stattliche Sätze über das Abenteuer der gemeinsamen Reise in die verbindliche Verbundenheit wechsle ich mit finsteren Phrasen über Versuchungen, Nachlässigkeit und Routine ab.
Weihevolle Gedanken über die Ehe beim Betrachten des Atlantik.
Ich halte mich an die alte Theaterregel, die Generationen von autoritären Regisseuren eine Erfolgsformel ist: „Immer ein Klima der Angst schaffen!“ Düstere Visionen einer gegenseitigen Entfremdung zeichne ich in spitzen verbalen Federstrichen an den glühenden Abendhimmel überm Ärmelkanal. Die Gefahr der Verwandlung liebevoller Zugewandtheit in gelangweilte Gleichgültigkeit und schließlich in fiebrige Verachtung werfe ich mit übertriebenen rhetorischen Pinselschlägen unter die erschütterten Gäste und das tief bewegte Hochzeitspaar. Ich treibe meine dystopischen Karikaturen nur auf die Spitze, um mittels Redekunst das kollektive Bedürfnis nach vollendeter Harmonie in sein Extrem zu peitschen!
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Schließlich posaune ich Hässlichkeiten aus der Vergangenheit der Heiratenden heraus, die die beiden noch nicht voneinander kannten und die mir von deren Expartnern zugesteckt wurden. Sie sollen auch jetzt, wo die peinlichsten Verfehlungen ihres bisherigen sorglosen Lebens auf dem Tisch liegen, in sich die Liebe finden! Dann springe ich ans Klavier. Eigentlich war das Piano für Mendelssohns abgedudelten Hochzeitsmarsch vorgesehen, ich aber knalle einen beängstigenden Mollakkord in den Bassbereich. Wenn Braut und Bräutigam unter Tränen noch den Willen für ihr „Ja!“ in sich tragen, sollen sie es sich jetzt in die weinenden Gesichter rufen – unter dem hymnischen Donner wagnergleicher Akkorde für die Ewigkeit. So in etwa stelle ich mir das vor.
Hoffentlich sind die beiden freigeistig genug, um meine kunstvolle Darbietung nicht aus kleinbürgerlicher Romantikneigung misszuverstehen. Dass sie, anstatt mich als Bewahrer der Liebe und Wahrheit zu feiern, die Zeremonie als gescheitert betrachten und mich womöglich verklagen! Mir fehlen nämlich die sprachlichen Mittel, um vor einem englischen Gericht meine einzige Chance wahrzunehmen und mich dann auf „zufälligen Untergang“ zu berufen.
Mark Scheibe
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Coaching-Tourette
Auf meinen Prokrastinationswegen (Endspurt einer großen orchestralen Filmmusik, ich kann nicht loslassen, ich werde einfach nicht fertig) begegnet mir in der ARD die neue Serie „How to Dad“: ein Quartett mitteljunger Väter wartet im Café eines Tanzstudios auf die Vorschultöchter. Herrliches Rumgemacker unter vier Vätern mit unterschiedlicher Bewaffnung: der Startup-CEO demonstriert Wohlstand und mentale Überlegenheit. Der woke Hausmann vergibt Haltungsnoten und hat sämtliche Sensibilitäten im Blick, vor allem seine eigenen. Der breitbeinig sitzende Unterweltler wirft die anderen immer wieder auf den Boden der Tatsachen und findet im verbalen Nebel der Hochsensiblen und Abgehobenen zu seinem Feingefühl. Der ewig junge Influencer wird von niemandem ernst genommen, zeigt aber ein gutes Herz bei zweistelligem IQ.
Der Businessdaddy mit der teuren Armbanduhr hat eine Art Coaching-Tourette: unaufgefordert entweichen ihm Regelsätze zur Life-Optimierung: „Always remember – you are the best!“ ist noch eines der sanften Mantras, die der zärtliche Vater seiner Kleinen auf den Weg in den Ballettsaal mitgibt. „Du brauchst Me-time!“ Warum ist der Markt für selbsternannte Spezialisten der gekonnten Lebensführung eigentlich so groß geworden? Hier ein paar Original-Zitate der Webseiten von Coaches und Trainern: „Sind Sie bereit für Ihr neues Leben? Für mehr Klarheit, mehr Erfolg, mehr Glück und mehr Freiheit? Bringen Sie Ihr Leben auf die Erfolgsspur.“ Oder: „Würdest du gerne mehr aus dir und deinem Leben machen? Effektiver sein, besser, intensiver und nachhaltiger?“
Wenn ich soetwas lese, würde ich am liebsten sofort alles buchen. Mit jemandem über mein Leben sprechen, der wirklich etwas davon versteht. Eine Art Therapie buchen, nach der ich nicht nur gesund bin, sondern auch die Taschen voller Geld habe – genial!
Wir glauben, Experten können uns von erfolglosen Tagedieben mit negativem Schufa-Eintrag zu Global Playern mit Platin-Amex machen. Dass sich die vollgemüllte Zweizimmerwohnung beim Autobahnzubringer – die mit der durchgesessenen Couch mit den Chipskrümeln in den Ritzen – gegen eine Villa am See eintauschen lässt, wenn wir nur diesen geheimen Schalter umlegen, der unser inneres Potenzial freisetzt. Womit sich dann unser im Verborgenen gewachsenes Genie der Gesellschaft offenbart und wir forthin von lächelnden Schönheiten mit lila Geldscheinen beworfen werden. Jahrelang antrainierte Passivität und die Internetsucht transformieren sich in einem Wochenendseminar zu vollendetem Unternehmertum und sozialem Hochstatus.
„Du bist ein Giver, ein Maker, ein Targethitter!“ Schauspieler Daniel Felix Adolf als Coachinglegende Dan Cigno erläutert sein „Schwan-Prinzip“. Foto: Axel Decker (Screenshot aus dem Film „Leben im Hotel Art Nouveau“)
Wie gläubig wir sind – in unserer aufgeklärten Zeit! Wissenschaftler erinnern zum Beispiel angesichts zunehmender Genderdiversität an die offensichtlichen biologischen Fakten, und dass die Geschlechtsorgane nicht aufgrund sozialer Prägung wachsen. In der Schweiz kann man sich sein Geschlecht jetzt aussuchen. Ich glaube, als junger Mann hätte mir diese Idee geholfen: als etwa 20-jähriger hatte ich große Schwierigkeiten mit dem, was allgemein als männlich galt. Entscheiden zu können, mich den autoritären Zuschreibungen zu entziehen, hätte mir und anderen „weichen“ Männern vielleicht Türen zu einem ausgeglicheren Selbstverständnis geöffnet, wer weiß. So eine Runde wie in der Serie „How to Dad“ wäre damals utopisch gewesen.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Vielleicht ist tatsächlich unser größtes Menschenpotenzial, dass wir kraft unserer Vorstellung die Welt verändern können. Ich glaube, wir müssen dafür noch ein bisschen trainieren. Zum Glück gibt es Coachingprogramme!
P.S.: gerade ist der Film „Leben im Hotel Art Nouveau“ fertig geworden. Weil der Konferenzraum ebendort für Seminare zur Verfügung steht, habe ich einen richtig krassen Coach ins Drehbuch geschrieben. Schauen Sie doch mal rein.
Mark Scheibe
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Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.
Allein mit der Musik
Vor genau einem Jahr habe ich mich für ein Leben im Hotel entschieden. Ich hab mich zuhause einfach nicht mehr zuhause gefühlt. Seitdem wohne ich in Berlin-Charlottenburg in einer Suite mit Badewanne und Klavier im Hotel Art Nouveau. Ich bin viel unterwegs, spiele hier und da Konzerte, darf manchmal im Fernsehen auftreten, unterhalte geschlossene Gesellschaften auf Galas oder ziehe mich zum Komponieren in verlassene Ferienhäuser zurück. Einmal im Monat treffe ich meine Therapeutin. Sie fragt, womit ich gerade beschäftigt bin.
Ich berichte ihr von der „Melodie des Lebens“: In der Gesamtschule Bremen-Ost treffe ich junge Menschen in ihrem zweiten Lebensjahrzehnt. Ich stelle ihnen Fragen, versuche, ihr Innenleben zu erfassen, und das Gehörte zu poetisieren. Ich schreibe mit den Jugendlichen Texte, die ihr Inneres ausdrücken und suche mit ihnen gemeinsam Melodien dazu. Dann wird gesungen, gespielt und geprobt. Anschließend komponiere ich daraus ein abendfüllendes Programm, das ich mit den Teen- und Prä-Teenagern eines sogenannten Brennpunkt-Stadtteils auf die Bühne bringe. Mit einem fabelhaften Orchester, der Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Ein Orchester, dessen Mitglieder ihre eigenen Gesellschafter sind. Dem Konzert mit dem Sound der Adoleszenz habe ich den Namen „Melodie des Lebens“ gegeben.
Als Komponist ist man verpflichtet, hin und wieder in Venedig spazieren zu gehen. Foto: Nicoletta Fornaro
Vor ein paar Tagen war es wieder soweit: nach einer apokalyptischen Probenwoche, für die Nerven wie Stahlträger nicht die schlechteste Ausrüstung sind, brachten wir gemeinsam zwei Konzerte zur Aufführung, die mit Standing Ovations happy-endeten. Das Repertoire des Konzerts sind Uraufführungen. Klingende Bekenntnisse junger Menschen, die zwei Jahre pandemisches Ausgebremstwerden in ihren jungen Seelen tragen. Gesungene Klagen über Einsamkeit. Über die Angst, verlassen zu werden oder niemandem etwas zu bedeuten. Hymnische Verherrlichungen der Sehnsucht, ans Paradies des Partyfeierns. Leidenschaftliche Oden über die Lust an der Zerstörung, in der die Hoffnung des Schöpfens wohnt.
Die 14-jährige Maya shoutet über einen Perkussionshagel aus dem Orchester: „Alles, was ich vom Leben will, ist gemütlich mit dir zu chill’n. Abzuhängen mit dir, wie zwei schlafende Tiere, das ist was ich will.“ Ein Mädchen, das von Zuhause abgehauen war und von der Polizei wieder eingesammelt wurde, flüstert zu gläsernen Streicherakkorden diese Zeilen ins Mikrofon: „Für die mich lieben, bin ich da. Weil ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich verliert. Für die mich lieben, bin ich da. Weil ich weiß, dass alles andere zu Einsamkeit und Trauer führt.“ Nach dem Konzert fragen Zuschauer, wie sie es schafft, dass alle eine Gänsehaut haben, wenn sie diese Sätze spricht. Sie sagt, sie denkt einfach ganz langsam an ihr Leben. Eine 17-jährige, die von ihrer Mutter aus der Wohnung geworfen wurde, singt mit der größten Sehnsucht, die in ihr wohnt: „Lass die Sonne untergehen, lass die Sterne auferstehen. Lass uns in der Dunkelheit verglühen. Wie der Himmel explodiert, wie sich alles neu sortiert. Eine neue Welt entsteht aus uns.“ Lea und Anton aus der 7. Klasse bekennen sich in einem Duett zur Gewalt: „Weil mir langweilig ist, tu ich dir weh. Und ich schlage dich, wenn ich dich seh.“ Das ist nicht halb so ironisch, wie es klingt.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
In den Nächten zwischen den Proben sitze ich mit meinem Skizzenblock vor einem großen Computerbildschirm und komponiere die Orchesterarrangements. Ich fühle mich nicht schlecht, nur weil ich diese wesentliche Arbeit auf den letzten Drücker erledige, ich kann es nur so. Unterbricht eine Panikattacke meinen Kreativitätsrausch, schaue ich einfach auf die Porträts von Vivaldi und Rossini, die waren genauso. Der Termin der ersten Orchesterprobe ist die reine Not, die es zu wenden gilt: ein paar Dutzend internationaler hochbezahlter Superkönner warten darauf, dass die Musik auf dem Pult liegt, jede verschwendete Minute kostet ein Vermögen. Notwendigkeit – für mich der Geburtskanal der Kunst! Zu meinem Glück fallen mir die Ideen in die Hände, alles ist schon da. In vielen Nächten habe ich die Lieder geträumt, die Arrangements unbewusst schon aus dem „Äther“ abgehört und kann sie jetzt aufschreiben. Für Flöte, Englisch-Horn, Klarinette und Fagott. Melodien und Gegenmelodien, die so klingen wie die Gedanken, die miteinander ringen. Die langen Töne für das Horn, auf dem die schnellen insektenartigen hohen Holzbläser herumtanzen. Die Pauke, die den Blechbläserakkorden Raum nach unten schenkt. Die vielen Girlanden und Kaskaden, die aus einem Streichorchester einen fliegenden Teppich machen.
Ist alles gut komponiert und lässt sich gut lesen, sodass die Musiker es in zwei Proben fassen können und Lust haben, es auf das höchste Ausdrucksniveau zu bringen? Dann ist das Konzert. Die Bühne ist frei von Instrumentenkoffern, Jacken und Krempel, die Stuhlreihen sind da, wo sie sein sollen. Die Lichttechniker richten die Scheinwerfer mit ihren Effekten ein, vor dem Konzert ist Ruhe. Ich sitze am großen Steinwayflügel und spiele ein bisschen mit dem Klang des Raumes. Dann beginnt das Konzert. Am Ende stehen ein paar Hundert Zuschauer mit Tränen in den Augen und finden kein Ende ihres Zuspruchs. Ich höre noch die Stimme der 13-jährigen Elis in meinem Ohr: „Am liebsten bin ich allein, allein mit der Musik. Draußen ist Streit und Hass und Krieg, in mir drin ist Ruhe. Und Musik. Und jeder Kummer verfliegt, allein mit der Musik.“ Genau das fühle ich auch. Jetzt bin ich wieder im Hotel. Hier spüre ich das am besten.
Mark Scheibe
P.S.: eine Idee von der Melodie des Lebens zeigt dieser besondere Pandemiefilm von 2020.
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Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.
S-Bahnfahren in Berlin
Vor der viralen Wartezeit auf die Wiederkehr der sogenannten Normalität nutzte ich täglich die Berliner S- und U-Bahnen. Das halte ich heute kaum noch aus. Niemand grüßt, wenn man eintritt. Das war früher selten anders, aber die Coronamonate haben mich etwas needy gemacht, was das Wahrgenommenwerden angeht. Statt wenigstens einen kleinen Willkommensapplaus zu spendieren, starren also alle nur auf ihre Handys. Ich muss an meinen Freund Edward denken, er hat in Oxford studiert. Spartenübergreifend wurden dort auch Umgangsformen unterrichtet, was für ein hervorragender Ansatz!
Von der Demütigung des Ignoriertwerdens erschüttert ziehe ich mich in der S-Bahn dann in eine Ecke bei der Tür zurück, wenn es geht. Zu meinem Verehrungsanspruch gesellt sich eine Empathieobsesession: manchmal kommen ältere Leute in den Waggon. Sie müssen stehen, weil niemand sie bemerkt und freiwillig Platz macht. Man ist schließlich beschäftigt, mit Tinder, Tiktok oder Telephonieren mit Lautsprecher. Ich stehe dann unter Harmonieherstellungszwang und Anstandssucht. Mein Gerechtigkeitstick nötigt mir ab, meine angeborene Schüchternheit zu überwinden. Ich hebe meine Stimme in Klang und Lautstärke so, dass sie sich innerhalb der vor mir liegenden drei mal vier Meter durchsetzt, ohne penetrant zu sein und frage mit der inneren Haltung eines freundlichen Strafrichters: „Würde jemand der jüngeren Herrschaften vielleicht so aufmerksam sein, der Dame einen Platz anzubieten.“ Das funktioniert meistens besser als ich dachte. Selbst finster dreinschauende Neuköllnbösewichte, die sich in ihrer Erscheinung an dem kriminellen Personal der Serie „4 Blocks“ orientieren, nehmen den Appell an ihre Ehre ernst, springen auf und ringen sich in beinah ganzen Sätzen Höflichkeit ab.
Trinken in der S-Bahn? Ja, aber nur mit Haltung. Foto: Collage aus Bildern v. Gabriele Kantel u. Martin Peterdamm. Bestimmte Rechte vorbehalten
Im Winter öffnete ich einmal ein S-Bahnfenster, weil ein Quartett vollgetankter Sauftouristen einen brechreizüblen Schnapsgestank ausdünstete. Einer quengelte wegen der unbahaglichen Windeskälte, beleidigte mich in einer Fremdsprache und schloss das Fenster. Ich öffnete es wieder. In solchen Situationen denke ich jedesmal, gleich blitzt irgendwo ein Messer. Hätte ich doch mehr Zeit mit Kung-Fu, Thaiboxen und Krav Maga verbracht als mit romantischen Diners bei Kerzenlicht! Es ist emotional für mich also sehr aufwändig, S-Bahn zu fahren. Nach einem Trip vom Ostkreuz nach Gesundbrunnen bin ich erschöpft. Meine Kraft reicht dann gerade noch aus, ein Taxi ins Waldorf- Astoria zu nehmen, um im Schutz einer hochflorteppichgedämpften Hotelsuite über den Dächern der Stadt bei Tierfilmen im ZDF-Nachmittagsprogramm zu entspannen.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Das wird jetzt mit dem 9-Euroticket nicht besser. Es gibt zwar keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Armut und dem Mangel an Anmut, ich weiß nämlich aus meiner Erfahrung als Barpianist in teuren Grandhotels, dass Geld in den Taschen der Gäste diese nicht zwangsläufig zu Nobelpreisträgern der Manierenkunst macht. Trotzdem erwarte ich von dem neuen Dumpingtarif umgekehrt keine Hochkonjunktur der Umgangsformen. Es könnte sein, dass mit der Preissenkung auch manche Hemmschwelle auf moralisches Hartgeldniveau fällt: macht der hedonistische Berlin-User die Lache aus Erbrochenem und Bier noch weg, in der es sich auf der schunkeligen Schiene bequem macht, wenn er weiß, dass seine Reiseherberge für fast umsonst zu haben ist?
Die BVG denkt über die Einführung einer 1. Klasse in der S-Bahn nach. Viermal so teuer, aber mit Sitzplatzgarantie, Steckdose und W-LAN. Ich bin sehr dafür! Die Mitnahme soll aber nicht an den Fahrpreis gekoppelt sein, sondern an eine rasche, freundliche Prüfung des Anstandsniveaus. Eine Oxfordabsolventin soll von der BVG autorisiert werden, zu entscheiden, wer an Bord darf. Jeder neue wohlriechende Gast bekommt einen Begrüßungstee und verweigert sich keinem kultivierten Austausch unter dem Kronleuchter.
Mark Scheibe
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