Zu spät beim Frühstück

Heute kam ich zu spät ans Frühstücksbuffet. Ich bin immer zu spät. Ich bin eben Künstler. Das Klischee will es so, und ich bin zu schwach, um mich dagegen aufzulehnen, schließlich ist das Künstlerleben eine verlängerte Kindheit. Ich komme zu spät zu Verabredungen, habe es auch mit über 50 noch nicht gelernt, pünktlich zu sein. Ich kam schon in der Schule zu spät. 

Die Briten sagen elegant: „I’m late“, wenn sie später kommen als vorgesehen. „Too late“ sind sie erst, wenn die verabredeten Dinge ohne sie stattfinden. Wir Deutschen sind sprachlich verdammt, bereits bei der kleinsten Abweichung von der Sollzeit die Absolutheit des Makels zu erleiden. Zu spät – der fatale Schaden. Wie fein ist es, zu sagen, man sei spät, so als wäre das eine charakterliche Eigenart, nicht das Loser-Stigma des disorganisierten Tagträumers. Das fiese Kleinwort „zu“ macht eine Angelegenheit des persönlichen Stils zu einem Brandmal des Ausgestoßenseins. 

Die Erfahrung des Verdammtwerdens hat mich über die Jahre zermürbt. Zu spät im Bett. Zu spät mit den Hausaufgaben begonnen. Zu spät die Bewerbung fürs Stipendium eingereicht. Zum Glück konnte ich das ausgleichen, indem ich in anderen Lebensbereichen zu früh war. Meine erste Zigarette rauchte ich als Achtjähriger. Es war eine Chance, die 14-jährige Tochter des neuen Freundes meiner Mutter zu beeindrucken. Auf dieses Mädchen wälzte das neue Paar die Betreuungslast ab, wenn es unter sich sein wollte.

Meine neue Schwester hing aber lieber mit ihrer Clicque rum, wenn die Alten nicht da waren. Dann klaute man unauffällige Mengen Weinbrands aus der Hausbar und spielte Flaschendrehen. Anschließend wurde geknutscht und gefummelt, während sehr laut eine Nina-Hagen-Schallplatte lief und die Lichtorgel dazu blinkte. Mich hatte man am Bein. Ich war dort eindeutig zu jung, wollte aber dazugehören und war es leid, als Kind unter Halbwüchsigen nicht für voll genommen zu werden. 

 

Mit vorwurfsvoller Strenge lässt mich Hotelmanagerin Ludmilla Herrmann spüren, dass ich zu spät zum Frühstück erschienen bin. Foto: Ingo Bethke


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Um diesem erotikfixierten Zirkel Anerkennung abzuringen, studierte ich die Geheimbibliothek im Arbeitszimmer des neuen Manns in der Familie: eine beeindruckende Sammlung von Erwachsenenheftchen mit klangvollen Titeln wie „Private“, „Color Climax“ oder „St. Pauli-Nachrichten“ lieferten das Expertenwissen, von dem die Jugendgang nur träumen konnte. Liebeskunstfibeln wie „The Joy of Sex“ (Band I und II) machten mich zu einer frühreifen Koryphäe auf dem Gebiet der theoretischen Erotik. Ich war der fachkompetente Pornoprofi. Wegen mangelnder Hormonbelastung gingen mir die schmutzigsten Details ganz unaufgeregt über die Lippen. Von den Teenagern brauchte nur einer das Wort „Muschi“ zu grienen, dann wurden alle rot. Ich hatte noch ganz andere Vokabeln in petto und blieb cool.

Ich war deshalb auf die Pubertät bestens vorbereitet und erlebte spektakuläre Dinge, als sich das Knowhow mit der Wirklichkeit verband. Im dauerhaften Lustrausch einer nicht enden wollenden Adoleszenz fand ich mein Element. Das Erwachsenwerden kam gut ohne mich aus. Seit einiger Zeit habe ich das Gefühl, dass es dafür auch schon zu spät ist. Frühstücken kann man in Berlin zum Glück immer.

Mark Scheibe

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