Zwischen den Jahren

Zwischen den Jahren. Die beste Zeit der Welt. Das Niemandsland des Kalenders, die allgemeine Schonzeit. Keiner traut sich, anzurufen und zu nerven. Unvorstellbar, dass ein zu Freundlichkeit verpflichteter Lohnsklave aus dem Vodafone-Callcenter meine Nummer wählt, um mir Treuekundenschmu ins Ohr zu penetrieren. Die Consultants und Controller schweigen pietätvoll. Im restlichem Jahr verwandeln selbstbewusste BWLer die 1. Klasse des ICE in ein Großraumbüro. Zur Weihnachtszeit blökt niemand „Herr Reimann, ich grüße Sie!“ durch die Teppichstille des Ruhebereichs. Kein Immobilienmakler tippelt mit seinen Langfingern den Blues der Excel-Tabelle in sein Windows-Notebook.

Sogar der Zugbegleiter buttert seine Ansagen mit einem sentimentalen Timbre. Leise rieselt der Schneeregen draußen, drinnen kommt man auf einmal ganz leichtgängig ins Gespräch. Als ob man sich in diesen besonderen Tagen der wohltuenden Gewissheit gewahr wird, dass wir alle Menschen sind. Dass uns mehr eint als uns trennt. Dass wir nicht nur Gegner sind, die einander mit tödlichen Viren bedrohen.

Uns dämmert, dass man miteinander reden kann, wenn man schon so dicht beieinander sitzt. Wir haben zwar meist alle gut auf Instagram zu tun, aber Begegnungen erweitern ja den Horizont. „Social Media“ behauptet zwar, genau das zu tun. Mittlerweile ist uns allen aber schon aufgefallen, dass es besser „Lonely Media“ heißen sollte, wenn wir vornübergebeugt mit hängenden Gesichtern das Smartphone um Dopamininjektionen anbetteln.

Die übers Jahr gewachsene urbane Härte fällt von uns ab, wenn Bing Crosby im Radio „White Christmas“ croont. Wenn uns der Sound von Sleigh Bells in die Kaminstimmung bimmelt, die unsere Tränen löst. Wenn wir uns gestatten, auszuschlafen. Wenn Effizienz wieder zum Fremdwort wird und Selbstoptimierung ein Riesen-Unfug ist, über den unsere Großeltern nur lächelnd den Kopf schütteln würden.

Weihnachtsbeleuchtung Unter den Linden  Foto: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Ich muss an die berührende Weihnachtsgeschichte aus dem 1. Weltkrieg denken, als feindliche Soldaten 1914 beschlossen, für die Dauer einer Weihnachtsfeier zu vergessen, dass sie Soldaten sind. Sie beschlossen, einander nicht zu töten, sondern zu feiern. Ausgelöst wurde die kollektive Barmherzigkeit von Päckchen, die in den Frontgräben der deutschen wie der britischen Seite verteilt wurden. Schokolade war darin, Postkarten mit wärmenden Worten, Tabak und Schnaps. Dann wurde gesungen und gescherzt. Feinde wurden Freunde, weil sie erkannten, dass sie einander gleichen.

Möge dieses „Dazwischen“ eine Speisekammer werden, die uns das ganze Jahr über nährt.

Fröhliche Weihnachten, Ihr

Mark Scheibe

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