Buddha und die Insekten

Im selbstgewählten Bremer Komponierkerker lebe ich seit fast vier Wochen im Exil, um einen großen Kompositionsauftrag fertigzustellen. Im Souterrain eines Altbaus mit Blick in den Garten. Ein Eichhörnchen springt durch die nackten Bäume und holt sich Nüsse, die ich vor die Tür lege. Manchmal kommt auch eine Krähe und schnappt sie sich. In der Musik kann das genauso sein: man komponiert einen hymnischen Reigen Musik für Streichorchester, um das Glück des Lebens zu verherrlichen. Statt mit dem Eichhörnchen der Berührung reagiert das Publikum aber mit der Krähe der Traurigkeit. Was für ein Missverständnis! Oder noch schlimmer: mit dem Insekt des Desinteresses. Der Schabe der Ignoranz. Der Assel der Gleichgültigkeit.

Innerlich bin ich gerade Beethoven, äußerlich verwahrlost: in Pyjama und Bademantel habe ich mich von den Anforderungen der Realität und dem glamourösen Leben im Hotel Art Nouveau vorübergehend zurückgezogen. Und nur, weil mir die Nassrasur einen gewissen altmodischen Genuss verschafft, ähnele ich noch nicht Wolfgang Thierse.

Zwischen einer zärtlichen Fagottkantilene und einem gewaltigen Horntutti frage ich mich, warum ich dem niedlichen Eichhörnchen mit seinem kuscheligen roten Fell die Nüsse gönne, der schwarzgefiederten Hitchcock-Krähe aber nicht. Sind sie nicht beide Gottes Wesen? Auch muss ich bei jedem Marienkäfer denken: „Hast du ein Glück, dass du Pünktchen hast!“  Selbst der Grashüpfer hat es leicht in meiner Gunst. Nicht so der Weberknecht, die gemeine Abflussspinne und anderes haariges dunkelbraunschwarzes Gekreuch.
Aus Respekt vor dem Auge der Betrachterin: ein Bild aus der Prä-Pyjama-Ära im Herbst. Foto: Martin Peterdamm


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Diese kleinen Biester jagen mir den Schrecken in die Knochen. Sie lassen mich vergessen, ein aufgeklärter Gehirn-User im 21. Jahrhundert zu sein. Wenn ich in meinem temporären Komponistengefängnis einem Grusel-Insekt begegne, gehen sämtliche Lampen im Oberstübchen aus. Dann ist Mittelalter zwischen den Ohren. Jedes Ekel-Kleinstlebewesen lässt mich eine raubtierhafte Körperhaltung einnehmen und mit geballter Faust glutäugig den Eindringling fixieren.

Es dauert meist ein paar Augenblicke, dann streife ich das Höhlenfell wieder ab, lege die Keule beiseite und denke an meine buddhistische Freundin Annabella (Name von der Red. geändert). Sie sagt: „Wer andere Lebewesen tötet, zerstört den Samen des Mitgefühls.“ Das leuchtet ein. Ich versuche, die räudige Kanalspinne auf der kalkweißen Wand hinter meinem Komponier-Chair nicht als niedere Kreatur wahrzunehmen. Laut Annabella könnte es sich schließlich um eine frühere Verwandte handeln. Ich bemühe ein Glas und eine Ansichtskarte von den Malediven, dann raus mit der Tante! Auf Inseln gibt es kaum Ärger mit Insekten, das Meer hält die Biester fern. Kann sich die Krähe nicht wenigstens darum kümmern, wenn sie schon dem Eichhörnchen die Nüsse stiehlt? Ein Raubvogel sollte sich von buddhistischer Argumentation nicht beeindrucken lassen.

Andererseits haben Buddhas Eltern auch geschummelt: Nachdem der junge Buddha 500 vor Christus zur Welt kam, erkannten Weissager im Neugeborenen einen künftigen Weltenlenker. Der Vater, ein adeliger Herrscher im Norden Indiens, tat alles, um dem Sohn die Nachfolge schmackhaft zu machen. Wenn der Junge mal den elterlichen Palast verlassen musste, ließ der Vater sämtliche Kranken, Alten und Bettler des Weges räumen. So hatte der junge Buddha immer den Eindruck, in einer gesunden, fröhlichen Welt zu leben.

Es könnte sein, dass in den folgenden Takten meiner Partitur eine kleine Flöte und ein niedliches Klarinettchen von einem Haufen Pauken plattgemacht werden.

Mark Scheibe

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