Die Eisenbahn, Realität und dreiste Lügen

Immer wieder fall ich auf die Bahn rein: in meiner Phantasie betrete ich nicht den schnöden ICE mit der defekten Klimaanlage, sondern mindestens den Orient-Express. In meinen Kindheitserinnerungen sind Bahnhöfe romantische Orte, an denen Reisende in Reisekleidung ihr Gepäck aufgeben, bevor sie zum Gleis schlendern. 

Das gab es wirklich: man brachte seinen Koffer zu einem gutgelaunten Beamten. Am Reiseziel nahm man seine Bagage entgegen und hatte ansonsten die Hände frei zum Gestikulieren oder Zigarettespitze halten. Man flanierte mit seiner Fahrkarte zum Gleis. Man traf sich im Speisewagen. Tischdecken. Wagenfeldlampen. Kännchen. Wärme. Freundliche Kellner mit Berufsausbildung.

Auch wenn ich noch ein Kind war, als die Ära des stilvollen Reisens gerade nur noch nachhallte, will ich von der Atmosphäre nicht lassen. Ich weigere mich, das Wort „Bord-Bistro“ in den Mund zu nehmen und behaupte einfach, das eingeschweißte Sandwich aus der DB-Gastro sei mein Abendessen im Speisewagen, wo eine Schaffnerin im Vorbeigehen „Guten Appetit“ wünscht.

Ich ignoriere einfach die Retro-Science-Fiction-„Ästhetik“ der gegenwärtigen Eisenbahngastronomie und bilde mir weiterhin ein, die Reise mit der Bahn wäre die adäquate Wahl, wenn es um lange Fahrten geht.

Also bin ich vor jeder Bahnfahrt aufgeregt wie ein verliebtes Mädchen vorm Abi-Ball. Die Rauchenden vorm Berliner Hauptbahnhof zu passieren, ist die erste Prüfung meiner Ignorierfähigkeit. Übellaunige Suchtkranke stehen im Weg herum. Gesetzgeber mit Sinn für dramatische Begegnungen haben beschlossen, dass in Gebäuden nicht mehr geraucht werden darf. Nur noch vor der Tür. Raucher sind verpflichtet, eine Art Passierwolke zu bilden, die den Eingangsbereich ausfüllt. Auf diese Weise erinnert uns die Staatsmacht an die Kostbarkeit gesundheitlicher Unversehrtheit. Und dass diese nicht selbstverständlich ist, wie uns die Abhängigen mit ihren neidischen Blicken erzählen, die sie uns mitgeben, wenn wir in die vermeintliche Wärme der Bahnhofshalle an ihnen vorbeieilen.

Am Gleis dann der nächste Test: der Wahrheitsgehalt der Abfahrtsanzeige! In der Süddeutschen Zeitung schreibt Frederik Jötten von einem Schweizer Bahnmitarbeiter, der sich über die deutschen Kollegen lustig macht. Wo man in der Schweiz einem Fahrplan folge, gäbe es bei uns „eine unverbindliche Abfahrtsempfehlung mit Gleisvorschlag“.

 




Blick in einen Speisewagen. Foto: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Die dreistesten Lügen stehen natürlich nicht auf dem Bahnhofsdisplay. Im Raucherabteil eines Interregio fand ich in den 90er Jahren einmal eine Ausgabe der Zeitschrift „Neue Spezial“, einem offensichtlichen Käseblatt, das als Parodie die hanebüchenen Meldungen der Boulevardpresse auf die Spitze trieb. Am Redaktionsschreibtisch der kurzlebigen Satirezeitung entstand soetwas:

  • Frau aß zu viel Lakritz (Unser Kind ist schwarz)
  • Ungewöhnliche Verwandtschaftsbeziehungen (Meine Eltern sind Geschwister)
  • Tierische Rekorde (Katze läuft 6.000 Kilometer zurück nach Hause!)
  • Unwahrscheinlich grausame Schicksale (Blinder kann wieder sehen – und setzt Ehefrau vor die Tür!)
  • Empörende Ungerechtigkeiten (Frau küsst Frosch – AIDS!)
  • Versicherungen, die entführte Kinder durch neue ersetzen
  • Tierpsychologen, die homosexuelle Pitbulls zu Heteros machen
  • Erschreckende wissenschaftliche Erkenntnisse (38 Prozent der deutschen Männer täuschen den Orgasmus beim Masturbieren nur vor!)

Jetzt ist es aber an der Zeit, meine nächste Reise zu buchen. Ich schicke rasch ein Telegramm an den Fahrkartenschalter, während die traurige Dezembersonne ihr fadiges Licht durch die 100 Jahre alten Fenster des Hotel Art Nouveau in Berlins Leibnizstraße wirft.

Mark Scheibe

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Schreiben Sie ihm, er freut sich: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.