Dopamin to go

Bei Heiner Müller und Peter Handke heißt es, die Werke seien klüger als ihre Autoren. Ich bin nicht intelligent genug, um sicher sein zu können, dass das als Kompliment gemeint ist, aber ich vermute, es gilt auch für mich: denn mit dem Song „Musik ist Liebe“ habe ich unwissend meine ganze Haltung zur Musik in einen schmissigen Slogan gegossen. Und das in einer Zeit, in der alles ironisch sein musste. Mitte der 90er komponierte ich die Schlagerparodie, mit der ich die Betroffenheit überexpressiver Schmalzbarden aufs Korn nehmen wollte. Was nur halbwahr ist: in Wirklichkeit wollte ich selbst ein überexpressiver Schmalzbarde sein. 

Das hätte zu dieser Zeit in meinen Kreisen allerdings zur Folge gehabt, dass man sich von mir abgewendet hätte. Man hatte schließlich immer kritisch und bedeutungstief zu sein. Je doppelbödiger und ironischer man in seiner Darbietung die Gegenwart infrage stellte, desto glaubwürdiger war man als Künstler. Also lebte ich meine Lust am starken Ausdruck im Schutze vermeintlicher Ironie aus. „Musik ist Liebe, manchmal ist das Leben wie ein Lied. Musik ist Liebe, warum können wir nicht begreifen, dass alles mal zuende geht.“ heißt es in meinem über 25 Jahre alten Kunstschlager, jegliche Reimkunst ignorierend. Das Lied wurde in meinen Konzerten ein gewisser Hit, am Ende des Programms sang man die Melodie sehr gerne inbrünstig mit. Schließlich litt mit mir eine ganze Generation an emotionalem Stau und unter dem kalten Zwang, scharfsinnig zu sein. Man sagte mit zeitgeistiger Distanziertheit, der Song sei „catchy“ und manch einer dachte dabei „kitschig“ und liebte das Kitschige insgeheim so sehr wie ich selbst auch. 

 

 

Wie sich der reißerische Titel „Dopamin to go“ in dieser Kolumne einlöst, bleibt das Geheimnis des vermutlich sehr klugen Autors. Photo: Wikimedia Commons

Musik ist Liebe, denn als ich als Jugendlicher die Musik entdeckte, war ich gleichzeitig das erste Mal verliebt. Den Rausch der Leidenschaft im lustvollen Miteinander zu entdecken, ähnelte dem hochkonzentrierten gemeinsamen Musizieren im Probenraum. Auch heute bin ich beim Musikmachen noch immer verliebt. In den Schlagzeuger, die Bratscherin, ins Publikum. Jede Probe, jedes Konzert ist ein romantisches Date mit ungewissem Ausgang. Ich habe ein Flackern unter der Haut, als wär ich 15, mit einem Wirbelsturm in Körper.

Zusammen Musik machen heißt sich aufeinander einlassen. Grenzen erspüren und sie zärtlich touchieren. Locken und Zurückhalten, kurz vorm Explodieren die Kurve nehmen. Den eigenen Klang öffnen, um einen anderen aufzunehmen. Sanft das Metrum streicheln und gemeinsam vibrieren. Den Duft einer Melodie einatmen, ihren Rhythmus entführen und zum Beben bringen. Mit der Hitze einer Harmonie einen Trommelsturm entfachen, in Trance stürzen und den Musenkuss in einen lustvollen Liebesbiss verwandeln.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Es heißt auch, dass der Zustand der Verliebtheit einer Apokalypse im Gehirn gleicht. Neurophysiologen sehen keinen Unterschied zwischen dem obsessiven Rausch der durch Verliebtheit hochgejazzten Leidenschaft und dem Heavy-Metal-Horror eines handfesten Drogenrausches. Sowohl beim Kick amouröser Passion als auch beim Trip auf Kokain stehen wir bis zu den Knien in Dopamin. Dem Steinzeithormon, dass den präfrontalen Cortex auf Null stellt und uns die magische Unvernunft schenkt, die nur Drogenwracks und Liebesopfer kennen. Und music-addicts mit schlauen Zeilen. Cole Porter weiß: I’ve got you under my skin, die Herren Jagger und Richards can get no satisfaction und Britney Spears knows dank Songwriterin Cathy Dennis that you’re toxic. Dass J. Fred Coots den Drogenlovesong „You go to my head“ schrieb, taucht dessen „Santa Claus is coming to town“ in ein psychedelisches Licht. Auch Robert Palmer ist addicted to love. Gegen solche starken und verdichteten Hits können die Herren Handke und Müller nur mit Masse punkten: ein Drama hat schließlich viel mehr Wörter als ein Song. Ob das die Werke klüger macht?

Mark Scheibe

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Für die multimediale Leserin ist hier eine zeitgemäße Variante des Lieds „Musik ist Liebe“ mit einem ganz und gar ironiefreien Text, der wesentlich klüger wirkt, als sein Autor zu sein vorgibt. (Pure Emotion)