Neukölln ist anders als Charlottenburg!

Romantische Nacht in Neukölln: wohlklingend murmelt Billie Holiday vom Plattenspieler unter die Haut gehende Zärtlichkeiten, die Kerzen werfen ihr tänzelndes Licht durch die rotgefärbten Champagnerschalen. Die Wärme der Ofenheizung macht den Spätoktober tropisch. Man wird allerdings immer wieder abgelenkt: Autofahrer von sportlicher Gesinnung brettern mit 100 km/h übers Kopfsteinpflaster, halten mit beeindruckend klingendem Reifenabrieb in zweiter Reihe und spielen den Bewohnern der Straße ihre Lieblingsmusik vor. Folgende Liedzeile dringt in die Nacht: „Und dass du ’ne kleine Fotze bist, bestätigt sich, wenn man dein Jochbein vor dem Späti bricht.“ Das brummelt ein gewisser Gzuz, wie meine genrekundige Freundin weiß. 

Die phonetische Nähe des Poeten zum Namen des biblischen Hauptprotagonisten ist kein Zufall: genau wie der Märtyrer eckt Gzuz mit den bestehenden Verhältnissen an und hält sich immer wieder zwangsweise im Gefängnis auf. Auch seine Gefolgschaft kann sich sehen lassen. Auf Spotify berufen sich schon fast drei Millionen Jünger auf den nachdenklichen Dichter. „Ich bin am Halluzinier’n, also warum Argumentier’n?“ gibt dieser uns in „Warum“ als existenzielle Infragestellung der sogenannten Realität mit auf den Weg. 

Wo es dem Original-Jesus noch gereicht hat, Wasser in Wein zu verwandeln und es dabei zu belassen, geht Gzuz noch einen Schritt weiter und entlarvt mit einem Seitenhieb die Selbstreferenzialität religiöser Systeme: „Ich rauch das Sativa, jeden Tag wieder. Schreib ein Paar Texte und thematisier‘ das.“

Anders als dem historischen Messias sind Gzuz wirtschaftliche Bestrebungen nicht fremd. Zwar ist auch Gzuz’ Barmherzigkeit legendär, er lässt einfach so fremde Frauen in seinem Zimmer schlafen. Auf originelle Weise aber verknüpft er auch die Sehnsucht nach körperlicher Nähe mit dem Wunsch, herausragend zu sein; gleichzeitig beschreibt er einen ökonomischen Trick, die Kraft der Liebe in irdische Währung zu verwandeln: „Du suchst deine Schlampe, sie schläft in meinem Zimmer. Ich nehm meine Groupies und schicke sie ackern. Full Silikon, keine Titten die schlabbern.“ 

Mit den Vokabeln des Volkes gelingt dem Künstler hier ein ungefärbter Einblick in das ausweglose Wertesystem eines erbarmungslosen Kapitalismus. Der Dichter verzichtet auf eine wertende Predigt und lässt uns als Gesellschaft den Schmerz der Konsequenzen spüren, die sie selbst verursacht hat. 

Oben: Gzuz mit seinem Apostel Bonez MC. Unten: der Original-Jesus (Rekonstruktion nach dem Turiner Grabtuch). Fotos: Wikimedia commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Etwas übernächtigt spaziere ich am Vormittag über das Pflaster, das noch in der Nacht eine Bühne für die Offenbarung des Neuköllner Glaubensbekenntnis war. Hier stehen Möbel! Freundliche Jünger haben Bürostühle, Sessel und Sofateile auf dem Bürgersteig drapiert. Falls ein Wanderer der Rast bedarf, kann er sich gleich auf die Matratze neben dem Rinnstein legen. In dem Kühlschrank dort ist gewiss etwas Verpflegung zu finden. Auch Felgen liegen hier. Wahrscheinlich Opfergaben. Selbst zu diesem Thema hat Gzuz eine Zeile. „Man ist Killer oder Opfer, alles andre bleibt Image.“ – heißt es in „Mörder“. Was genau die Lichtgestalt in der schon 73 Millionen mal empfangenen Botschaft sagen will, verbirgt seine Kontur im weisen Nebel der Ambivalenz.

Fürsorgliche Gzuz-Jünger stellen in Neukölln für Besucher Sitzmöbel auf die Straße. Foto: Wikimedia commons

Zurück in Charlottenburg versuche ich meine Eindrücke mit einer Tasse Kaffee bei Maïtre Münch am Meyerinckplatz zu verarbeiten. Ob der Kellner eine Ahnung von der Gzuzschen Botschaft hat? Wahrscheinlich nicht, hier stehen noch nicht mal Sitzmöbel auf dem Fußweg. Heute Nacht wird Billie Holidays romantisches Timbre in Ku’damm-Nähe erklingen. Wahrscheinlich religionsfrei.

Mark Scheibe

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