Panik im Pyjama

„Die Gleichgültigkeit wächst an mir hoch wie Efeu. Das ist auch gut so, denn nur gewöhnliche Leute ärgern sich.“ Diesen glänzenden Satz aus einem Interview mit Karl Lagerfeld hat der Journalist Sven Michaelsen hervorprovoziert. Das Fieseste und Berührendste aus Gesprächen mit Menschen, die in der „Gala“ zuhause sind und im Feuilleton leben, steht in seinem herrlichen neuen Buch. Der Titel ist eine kunstvolle Beleidigung eines Prominenten, die dem Autor galt: „Sie sind wohl übers Ufer getreten, Sie Rinnsal!“

Ich lese in der Eisenbahn auf dem Weg nach Hause, ins Hotel Art Nouveau. Während des Lesens läuft ein privates Selbstdemütigungsprogramm ab. Eine innere Stimme erinnert mich an die Filme vom Kompositionsworkshop in Bremen. Die sollten schon längst fertig gesichtet und geschnitten sein. „Schaffst du nie bis Montag. Bildest dir ein, dass man Filmeschneiden auf Youtube lernt, größenwahnsinniger Angeber.“ Eine zweite Stimme plappert rein: „Am Dienstag ist die Probe mit dem Streichquartett. Du hast noch keine Note komponiert, Mittwoch ist das Konzert. Sehr witzig. Und du Idiot liest Anekdoten mit Ken Follett und Claus Peymann. Die sind wenigstens strukturierte Künstler im Gegensatz zu dir Traumtänzer.“ 

Ein Chor kleiner innerer Wichtigtuer brüllt mich an, was mit dem Klavierauszug von einer bestimmten Arie ist, die die Sopranistin längst für Proben braucht. Jetzt lacht der Chor mich aus. „Du willst Komponist sein! Ha-ha-ha-haaaaa!“ Sie wiederholen ihr hämisches Lachen mit den Noten vom Anfang von Beethovens Fünfter. Ich ignoriere sie alle, ich wohne längst zwischen Sven Michaelsens beiden blauen Buchdeckeln. Ich verschlinge Hasstiraden von Peter Handke, Angebereien von Robert Wilson, Bekenntnisse von Hannelore Hoger und Weisheiten von Steven Spielberg. Mein Unterbewusstsein (ein Snob, siehe diese Kolumne) hält diese Lektüre in genau diesem Moment für das einzig Richtige und setzt sich durch. Es schenkt mir das Gefühl königlicher Überlegenheit, während ich mich über die inneren Soldaten des vulgären Existenzkampfs erhebe. Ich finde, ein bisschen Efeu wächst auch an mir schon hoch.

Am Bahnhof Berlin-Charlottenburg steige ich aus und laufe mit meinem Weekender, den mir eine wohlhabende Geliebte für ein geheimes Wochenende in der Toskana einmal geschenkt hatte, an den Buden und Restaurants am Stuttgarter Platz entlang. Ich bemühe mich um eine Haltung, wie sie einem nur ein Dreiteiler schenkt und lasse meine Mimik Würde demonstrieren. Urbanes Elend spiegelt sich in meinen Lackschuhen. Die Wilmersdorfer Straße: auf der einen Seite Shopping Malls, auf der anderen Ku’damm-Luxus. Sie trennt den Tümpel des Pöbels vom Swimmingpool der Oberschicht. Ich schwimme Richtung Pool und stürze mich mit einem Kopfsprung in die Fluten meiner Hotelsuite-Daunen. Zum Glück schlafe ich sofort ein.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Ich schrecke hoch! Wenn ich nicht sofort eine Lichtquelle berühre, sterbe ich! Ich weiß es, mein Herz überschlägt sich! Auf dem Schreibtisch im komplett dunklen Raum das Blinklicht der externen Festplatte an meinem Macbook. Da muss ich hin! Das einzige Licht in dieser tödlichen Dunkelheit. Ich stürze aus dem Bett und rette mich im letzten Augenblick, indem ich einen Finger auf das pulsierende Lebenslicht lege. Allmählich wird mir klar, dass ich augenblicklich aus einem Alptraum erwache. Der ist aber so autoritär und deutlich, dass mein Seidenpyjama von Zimmerli nassgeschwitzt an meiner Haut klebt. 

Langsam weicht die Todesangst und die Stimmen aus der Eisenbahn sind hellwach: „Wo du gerade wach bist, wie wär’s, wenn du dich um die Crowdfunder kümmerst, die auf die versprochene CD warten und was ist denn eigentlich mit den persönlichen Songs, die du angekündigt hast und willst du vom Finanzamt wirklich wieder geschätzt werden mit Kontopfändung und so oder doch mal die Buchhaltung machen? Fürs Stipendium der GEMA braucht es eine Abrechnung für 2020. Wann war nochmal die Frist? Jetzt, oder? Apropos GEMA, du weißt, dass du kein Geld bekommst, wenn du deine Werke nicht anmeldest? Die Orchester-arrangements für das Kammerphilharmonieprojekt am 8. Oktober schreiben sich übrigens auch nicht von alleine. Bisschen üben könntest du auch mal, die Stimme sitzt ja nicht gerade so gut und kannst du überhaupt deine Texte für das Salonkonzert am 18. auswendig oder willst du wieder, dass du mitten im Lied dumm dastehst und nicht weiter weißt und alle dich für die Niete halten, die du ja auch bist? Wie lange willst du eigentlich so weitermachen?“

Ich kann nicht mehr einschlafen und nehme wieder das Buch. Da schreibt Sven Michaelsen über ein Gespräch mit Bestsellerautor Ken Follett, der das Rezept guter Literatur von seinem Agenten empfing: „Sprache ist Mittel zum Zweck. Vergiss Wortakrobatik und metaphysischen Blumenkohl. (…) Frage dich als Autor, wo die größte Angst deiner Figur liegt, denn Angst ist unsere stärkste Antriebsfeder.“ Ich habe beschlossen, für diese Kolumne demselben Rat wie der bestens organisierte Weltautor Ken Follett zu folgen und meine Angst zum Thema zu machen. Es geht mir jetzt schon besser. Ich sollte nach dem Frühstück klingeln. 

Draußen fangen die Bauarbeiter langsam an, Radau zu machen. Ich kann ja mal einen der Herren nach einer Heckenschere fragen. Wenn ich dieses wuchernden Efeus nicht Herr werde, kann ich mich bald nicht mehr bewegen.

Mark Scheibe

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