Rotkäppchen Halbtrocken

Sonntagabend. Annabella (Name von der Red. geändert) hat mich zu einem Privatabendessen eingeladen. Am S-Bahnhof Neukölln torkelt mir eine Kleingruppe verkleideter Männer entgegen. Einer duscht unter seinem 5-Liter-Bierfass beim Versuch, daraus zu trinken. Ich weiche dem übelriechenden Mob aus, stolpere und mir fällt der Mitbring-Champagner aus der Hand. Er zerschellt auf geschichtsträchtigen Fliesen.

Ich habe nichts gegen Fußball. Ich bin sogar fasziniert von der hochenergetischen Sportkunst auf dem Rasen. Ich mag nur kein Bier. Seit ich klein bin, bedeutet Fußball für mich: grölende Kretins, die in Horden durch die Straßen ziehen und überall hinmachen. Dabei saufen sie: Bier. insofern ist die Pandemie ein Segen für mich, endlich Ruhe. An Bundesligaspieltagen ist man ansonsten in der Eisenbahn selbst in der ersten Klasse nicht sicher vor dem enthemmten Saufpöbel in Vereinskutten mit Bierkisten, die im Nu zu Altglas werden. Gibt es eigentlich eine Frauenbewegung in der Welt der Fußballfans? Ich sehe immer nur Herren, die sich entschlossen dem Lebensentwurf „Würdelosigkeit“ hingeben.

Es muss etwas mit Stolz zu tun haben, dass der berauschte Fan seinen Lebensstil nicht nur unter Gleichgesinnten zeigt. Ähnlich wie die Katze, die zufrieden eine ermordete Maus ins Haus bringt, buhlt der glücklich volltrunkene Rowdie mit den Erfolgen seiner Lebensführung um allgemeine Anerkennung. In Sachen Stimmbildung ist er ganz weit vorn. Der gemeine Hooligan weiß seiner Stimme zu gewaltiger Lautstärke zu verhelfen.

Wird im Berliner Dom bald grobes Liedgut gegrölt? Foto: Matthias Trautsch, Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Manch ein evangelischer Weihnachtschor kann sich hier ein Beispiel nehmen, wenn „Michael, row the boat ashore“ mal wieder lame und cringe klingt. Bringen leidenschaftsgepeitschte Stadionabonnenten diesen Gospel zum Klingen, hat das religiöse Intensität. Wenn auch mit ganz weltlichen Worten wie „Was ist grün und stinkt nach Fisch? Werder Bremen.“

Die fehlende Wucht in sakralen Singvereinen kann natürlich mit dem stillen Wasser zu tun haben, das die Damen und Herren Chorsänger während Proben zu trinken pflegen. Bier enthemmt nicht nur, es befreit! Auch von der Angst, seine Stimme zu erheben. Und von anderer durch soziale Domestizierung erzwungener Zurückhaltung. Ab dem dritten Pils entsteht allerdings der Wunsch nach gröberem Repertoire.

Der Kirchenchor der Berliner Domkantorei würde die Probe zum Weihnachtsoratorium womöglich um irdische Hymnen ergänzen wollen: „Olé, wir fahrn in’ Puff nach Barcelona“ ist selten geordnet vierstimmig zu hören und wäre ungekannter Schall in der Akustik der historischen Kuppel. Schließlich ist die Adresse des Berliner Doms „Am Lustgarten 1“. 

Der vielgehörte Schlager „Ihr seid Schalker, asoziale Schalker“ kollidiert zwar mit unserer Vorstellung von christlicher Nächstenliebe. Allerdings spricht die Legende des heiligen Dionysius für das Lied. Als nämlich der erste Bischof von Paris 250 n. Chr. auf dem Montmartre enthauptet wurde, spazierte er noch sechs Kilometer mit dem Kopf unterm Arm durch die Stadt. Migräneopfer mit Gottvertrauen rufen den heiligen Dionysius daher als Experten für Schmerz im Schädel weltweit um Hilfe. Ist es ein Zufall? Der Schalke-Schmähgesang ist eine schwarmintelligente Neubetextung der Bonnie Tyler-Kopfweh-Hymne „It’s a heartache“.

Kopfschmerzen bereitet mir auch die unlösbare Aufgabe, Sonntagabend im Arbeiterbezirk Neukölln Ersatz für den Annabella-Champagner zu bekommen. Zum Glück ist da ein Späti! Ich trete ein, eine riesige Wand aus Getränkekühlschränken mit Glastüren lässt mich hoffend lächeln. Vor allem gibt es dort: Bier. Ich finde noch eine Flasche Rotkäppchen Halbtrocken. Hoffentlich glaubt mir Annabella die Geschichte mit dem zerschellten Champagner.

Mark Scheibe

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Der Autor hat eine schicksalhafte Verbindung zu „Rotkäppchen Halbtrocken“. In seinem Lied „Herzlichen Glückwunsch dem Anderen“ steht das unentschlossene Getränk sinnbildlich für die Bitterkeit der Eifersucht. Zum Studium empfiehlt sich der Besuch des Streamingdienstes „Spotify“: