Statussymbol Tageszeitung

Die Sonntagszeitung von der F.A.Z. gefällt mir! Früher behaupteten die Werbestrategen des Blatts mit der Fraktur im Titel, dass sich hinter einer Frankfurter Allgemeinen immer jemand besonders Schlaues verbirgt. Diese Unterstellung streichelt gekonnt mein Ego: als Nichtabiturient und Hochschulvermeider bin ich den offiziellen Beweis schuldig geblieben, irgendetwas zu können. Seit heute hält mich die F.A.Z. allerdings nicht nur für klug, sondern auch noch für reich – sie lässt mich das erstklassige Gefühl kosten, zur kultivierten Wirtschaftselite zu gehören:

Im „Selection“ genannten Onlineshop der Journalisten darf ich nicht nur mit einem 350€-Austernmesserchen liebäugeln. Heute bieten mir die unbestechlichen Nachrichtenspezialisten eine Skulptur des österreichischen Künstlers Erwin Wurm an: Sie heißt „Ice Orange Tree“ und besteht aus der Nachbildung eines Unterarms mit Hand, die das V-Zeichen macht. Das Ganze ist aus mattiertem Glas. Auf den beiden gereckten Fingern stecken zwei Orangen. Der Einfachheit halber habe ich das Werk hier mit zwei Tomaten nachgestellt:


Der Ice Orange Tree als lebende Installation mit echten Tomaten. (Frucht auf Finger, 2021)

Das können wir F.A.Z.-Leser uns prima auf den Palisanderschreibtisch stellen. Besonders schmeichelt mir, dass mir die Redaktion zutraut, einen von acht Ice Orange Trees für je 36.000 Euro zu bestellen. Was klingt wie ein Cocktail, ist nämlich das Werk eines der erfolgreichsten Gegenwartskünstler seiner Generation, wie es in der Zeitung steht. Wobei ich denke, dass das Kunstwerk vom Look her nicht nur in der Generation des 67-Jährigen gut ankommt, sondern von jung bis alt Freude machen kann: in der Elterninitiativkita in Berlin Prenzlauer Berg kann das Objekt beim Morgenkreis zu lustigen Aktionen mit Frühstücksobst inspirieren.

Sätze der schwarzen Pädogogik wie „Mit Essen spielt man nicht!“ werden auf heitere Weise entkräftet, nebenbei wird beim Eindringen der Finger ins Obst ein unverkrampfter Umgang mit sinnlichen Erfahrungen in der Pubertät vorbereitet und zugleich die Sensibilität für die Verletzlichkeit von Lebewesen geschult. Klare Empfehlung an den ehrenamtlichen Vorstand: mit dem Kauf eines Ice Orange Trees sind die Renditegewinne aus dem zur Jahrtausendwende günstig gekauften Dachgeschoss am Kollwitzplatz gut angelegt.

Ein Liederbuch ist rasch die Folge: „Spiele mit Früchten, neue Kinderlieder aus Berlin“: „Augustin und Wilhelmine streicheln heut die Mandarine. Lias schnuppert Birnenbrei, Dilek zählt der Erdbeern drei. Alle wollen Früchte, alle wollen Sinn. Alle wollen Früchte, schwupps, da sind die Finger drin.“ Auch will man singend der Zeit nach dem Klimawandel entgegenspaßen: „Leute, das ist wirklich krass: regionale Ananas. Du brauchst nicht weit zu fahrn für Mangos aus Marzahn, schnupper doch mal, wie das gut tut, an der Grunewalder Grapefruit, regionale Ananas, Berliner Kinder lieben das!“

Auch in einer Seniorenresidenz im Grunewald hat der Ice Orange Tree das Zeug, zu erfreuen – ich meine das ganz unironisch. Kunst soll ja glücklich machen. Die Orangen machen gute Laune, je mehr ich mit ihnen und der Glashand beschäftige, merke ich: ich will so ein Ding! Ich muss unbedingt mit Hotelier Ingo Bethke sprechen, wozu heißt der Laden Hotel Art Nouveau, wenn hier kein einziger Ice Orange Tree im Frühstücksraum zu sehen ist? 


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Der Sonntagszeitung liegt auch noch ein Magazin bei: herrliches Angeberformat, nicht so bescheiden protestantisch wie das Magazin der „Zeit“ mit dem Schlaumeier-Kreuzworträtsel: hier sieht man auf der Titelseite den Rapper Marteria im modischen Pendant zum S.U.V, einer wattierten Riesenjacke mit Goldbeschichtung. Vom Modehaus mit der sanften Wucht einer Dampframme: Dolce & Gabbana, in Charlottenburg fällt man damit gar nicht auf.

Studium des Magazins der F.A.Z., Schal von Deli Cashmere. Vor einer Tür vom Holz der Fichte.

Bizarrerweise erinnert der kostspielig eingekleidete Sänger mit seiner Riesenjacke an die aufgeblähten Kunst-Häuser und -Autos von Erwin Wurm, die sind eine Entdeckung wert. Wurm sagt: „Du bringst zwei Dinge zusammen und es ergibt sich etwas Neues.“ Recht hat er. F.A.Z. lesen + über Kunst nachdenken = Kinderlieder schreiben. Die Zeitungsmacher haben Recht: Nach der Lektüre bin ich schlauer, ich verfüge jetzt über Expertenwissen aus der Kunstszene und kann bei der nächsten Party Eindruck schinden.

Mark Scheibe

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