Die Finsternis des Fremdgefühls
Im Wiener Caffeehaus in Berlin-Grunewald. Neben mir sitzen zwei gebräunte Herren, etwa 60-jährig. Sie würden auf einer Trigema-Betriebsfeier mit Wolfgang Grupp nicht fremd wirken. Einem steht in dunkelblauer Stickung „Boss“ auf dem hellblauen Polohemd geschrieben. Das drückt nicht nur eine klare modische Entscheidungsfantasie aus, sondern ist vermutlich auch die textile Niederschrift des eigenen Statusempfindens.
Die Dame im Kreis der zwei Herren ist im selben Alter, Konfektionsgröße 34, glänzendes Prachthaar, Schmuck. Man spricht eine kleine Spur zu laut, mit starkem bayrischen Akzent. Ich phantasiere den Herren eine Golfclubmitgliedschaft im Gegenwert einer Münchner Immobilie zu. Der Dame unterstelle ich halbbewusst, als dragonisches Familienoberhaupt in einer Villa am Starnberger See zu herrschen. Vor 20 Jahren hat sie noch mit Leni Riefenstahl beim Nachmittagstee Richard Strauss’ Alpensymphonie gehört.
Ihre Söhne hat sie in juristische Berufe hineinmanipuliert. Sie hat Schuldgefühle, weil ihre einzige Tochter nur Neurobiologin am Max-Planck-Institut geworden ist. Der Polohemdmünchner sitzt seitlich am Tisch und hat die Beine übereinander geschlagen. Sein nackter Fuß, der in einem Wildlederslipper steckt, wippt ständig viel zu nah in meinem Augenwinkel rum. Diese Territorialverletzung lässt mich innerlich aufrüsten. Für einen Augenblick kann ich Putin verstehen.
Dieser freundliche Bonvivant ein Putinversteher? No way!
Angesichts der schamlos ausakzentuierten Fremdklänge in Berlin-Grunewald wünsche ich mir Zurücknahme von den Revier-Rüpeln, die ihre bajuvarische Präsenz so unangemessen demonstrieren, über die Grenzen ihres Tisches hinaus. Mir liegt der Satz auf der Zunge: „Ihren Dialekt hören wir nicht so gerne, bitte sprechen Sie hochdeutsch, wenn Sie sich schon hier unterhalten müssen. Gibt es denn hier nirgendwo einen Biergarten für Sie?“
Ergänzend will ich unterstreichen, dass ich jederzeit für Toleranz und Nächstenliebe unterschreiben würde. Hier aber frage ich mich, erschüttert von meiner offenbar aufgeweichten humanen Gesinnung: woher kommt dieser Menschenekel? Diese vorsätzliche Abneigung? Ich lese jetzt extra nicht die Süddeutsche, sondern die Berliner Zeitung. Ich lächle demonstrativ, um dem Sturm des Unbehagens, der in mir wütet, ein Gegengewicht zu schenken. Ich zeige gelassen das Antlitz des lebensfrohen Bonvivants, über Allem schwebend. Dann kompensiere ich die innere Attacke auf meine Zivilisiertheit durch ein übertriebenes Trinkgeld, als Ablasszahlung für die abgestürzten Philanthropiewerte. Ich schlendere an den beiden Golfplatzgalanen und der attraktiven Seniorin mit demonstrativer Langsamkeit vorbei. „Langsam“ ist das neue „reich“. Zeit ist meine Währung, so soll es wirken. Wahrscheinlich sind die drei sehr sympathisch, wenn man sich kennenlernt.
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Vielleicht kommt die Finsternis des Fremdgefühls von dem viel zu vielem Lebenslicht, das viel zu knappen Raum bestrahlt. Wir Menschen werden immer mehr, und alle wollen nach Berlin. Wer ein sensibles Territorialempfinden hat, bekommt in Berlin Probleme.
Ich hab gerade welche. Wie gut, dass ich einen Beruf habe, der mir immer wieder Stunden schenkt, in denen ich die Menschen von ihrer besten Seite kennenlernen darf. Beim Konzert, wenn ganz unbekannte Menschen mich anlächeln, funkelnden Auges applaudieren, nach der Show schöne Worte finden und mir sogar Geld geben. Dann bin ich glücklich, voller Freude und liebe alle Menschen.
Hoffentlich kommen die drei mutmaßlichen Millionäre mal in ein Konzert von mir, dann kann mein Gewissen Frieden finden.
Mark Scheibe
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