Zufälliger Untergang
Lachmöwen kreisen über meinem Kaffeetisch, die White Cliffs of Dover reflektieren ein magisches Licht auf den flaschengrünen Atlantik. Heute morgen briet ich in britischen 32 Grad Celsius, ein paar Stunden später biss mir ein eisiger Regenwind durch das zuvor nassgeschwitzte Smokinghemd. „Weather is a third to place and time“– dieser Satz des britischen Poeten Ian Hamilton Finlay prangt in ozeanblauen Lettern auf dem historischen Leuchtturm hier in Folkestone. Das menschliche Leben findet in Raum und Zeit statt – das Wetter erst sorgt für Drama.
Vor einer Woche saß ich in Berlin-Charlottenburg beim Notar. Es ging um den Verkauf einer Wohnung. Der Notar verlas den Kaufvertrag, ließ Vokabeln wie „Zwangsvollstreckungsunterwerfung“ so beiläufig klingen, als könnten sie nicht „harte Zeit in dunklem Raum bei nicht wahrnehmbaren Wetter“ bedeuten und klärte mich und die Käufer über die Bedeutung anderer theatralisch klingender juristischer Termini auf: „Preisgefahr“, „Gefahrübergang“ oder „zufälliger Untergang“. Ein zufälliger Untergang ist, wenn die Herausgabe einer gekauften Ware oder Leistung durch höhere Gewalt unmöglich geworden ist, zum Beispiel durch Überschwemmung, Pandemie, Atomkrieg oder Blitzeinschlag.
Immer mehr vom Donner der Liebe gerührte Paare verzichten beim Heiraten auf religiöses Personal. Humanistische Ehezeremonien werden immer gefragter. Diese Rückläufigkeit des Glaubens an die Kirche als moralische Instanz kann nur als zufälliger Untergang verstanden werden, schließlich haben wir es bei religiösen Fragen von Haus aus mit höherer Gewalt zu tun.
Aus diesem Grund schwitze ich heute nicht nur wegen der Hitze. Ein befreundetes Paar wünscht sich morgen von mir die Zelebrierung ihrer Jahrhundert-Traumhochzeit. Nach einem Jahr Leben im Hotel soll ich also bereit sein, moralische Autorität zu verkörpern. Zwei ohnehin schon hochemotionalisierten Liebenden den salbungsvollen Pastorenton nebst Kirchenorgelerdbeben ersetzen?
Ich habe schon vergeblich ein Papstkostüm aus dem Mittelalter gesucht, das von meiner Unsicherheit in der Rolle des kirchenlosen Geistlichen ablenkt. In einem leerstehenden Trakt des Hotels, dessen Akustik entfernt an den Petersdom erinnert, versuche ich mich in überweltlichen Sprachmelodien, ganz ohne adäquates Gewand. Außerdem übe ich Gesten, die in ihrer Langsamkeit und Größe nur als Offenbarung einer höheren Macht verstanden werden können, während ich die Begriffe „Love“, „Commitment“ und „Decision“ wie Detonationen der Güte klingen lasse. Dass die Zeremonie auf Englisch zu halten ist, macht sie nicht einfacher. Ich spiele mit Kontrasten: stattliche Sätze über das Abenteuer der gemeinsamen Reise in die verbindliche Verbundenheit wechsle ich mit finsteren Phrasen über Versuchungen, Nachlässigkeit und Routine ab.
Weihevolle Gedanken über die Ehe beim Betrachten des Atlantik.
Ich halte mich an die alte Theaterregel, die Generationen von autoritären Regisseuren eine Erfolgsformel ist: „Immer ein Klima der Angst schaffen!“ Düstere Visionen einer gegenseitigen Entfremdung zeichne ich in spitzen verbalen Federstrichen an den glühenden Abendhimmel überm Ärmelkanal. Die Gefahr der Verwandlung liebevoller Zugewandtheit in gelangweilte Gleichgültigkeit und schließlich in fiebrige Verachtung werfe ich mit übertriebenen rhetorischen Pinselschlägen unter die erschütterten Gäste und das tief bewegte Hochzeitspaar. Ich treibe meine dystopischen Karikaturen nur auf die Spitze, um mittels Redekunst das kollektive Bedürfnis nach vollendeter Harmonie in sein Extrem zu peitschen!
„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“
Schließlich posaune ich Hässlichkeiten aus der Vergangenheit der Heiratenden heraus, die die beiden noch nicht voneinander kannten und die mir von deren Expartnern zugesteckt wurden. Sie sollen auch jetzt, wo die peinlichsten Verfehlungen ihres bisherigen sorglosen Lebens auf dem Tisch liegen, in sich die Liebe finden! Dann springe ich ans Klavier. Eigentlich war das Piano für Mendelssohns abgedudelten Hochzeitsmarsch vorgesehen, ich aber knalle einen beängstigenden Mollakkord in den Bassbereich. Wenn Braut und Bräutigam unter Tränen noch den Willen für ihr „Ja!“ in sich tragen, sollen sie es sich jetzt in die weinenden Gesichter rufen – unter dem hymnischen Donner wagnergleicher Akkorde für die Ewigkeit. So in etwa stelle ich mir das vor.
Hoffentlich sind die beiden freigeistig genug, um meine kunstvolle Darbietung nicht aus kleinbürgerlicher Romantikneigung misszuverstehen. Dass sie, anstatt mich als Bewahrer der Liebe und Wahrheit zu feiern, die Zeremonie als gescheitert betrachten und mich womöglich verklagen! Mir fehlen nämlich die sprachlichen Mittel, um vor einem englischen Gericht meine einzige Chance wahrzunehmen und mich dann auf „zufälligen Untergang“ zu berufen.
Mark Scheibe
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