Liebesbriefe wagen!

Darf ich meine Bestlaune hinausposaunen? Heute hab ich die Taschen voller Glück. Der Kaffee schmeckt wie das pralle Leben und die Sonne knallt auf die weiße Tischdecke im Frühstücksraum des Hotel Art Nouveau. Gestern war die Fernsehaufzeichnung der Talkshow „Thadeusz und die Künstler“. Schon früh als Jugendlicher phantasierte ich, eine TV-Show musikalisch auszustatten. Die großen Shows mit Orchester wie „Musik ist Trumpf“ und „Bios Bahnhof“ haben mich geprägt.

Der Traum ist real: in der quartalsweise produzierten Kulturtalkshow mit Jörg Thadeusz darf ich jedesmal eine Combo zusammenstellen, um mit ihr die musizierenden Gäste aus der Gesprächsrunde zu begleiten und maßgefertigte Songs zu singen. Gestern hatte ich die Freude, der legendären Jazzvokalistin Uschi Brüning musikalisch nahezukommen – sie swingt und scattet so leichtgängig, dass sofort die Luft leuchtet. Dann war da Albrecht Mayer, der mit seiner Oboe d’Amore singen kann, als wäre er Orpheus persönlich. Ich übertreibe nicht: was da zu hören ist, ist klingende Liebe. Außerdem trägt er einen weißglänzend satinierten Anzug.

Zur Sendung gehört auch immer eine Uraufführung, ich singe einem der Gäste ein Lied. Gestern sang ich für den Dramatiker Moritz Rinke. Ich muss das an dieser Stelle erzählen, weil meine hochfliegende Vergnügtheit von Hotelier Ingo Bethke in ihrer Rauschbewegung behindert wird: er bringt mir meine Post an den Tisch. Es handelt sich um Reklame der Targobank, einen gelben Brief vom Polizeipräsidenten in Berlin, der ohne Unterschrift gültig zu sein behauptet und eine weitere werbende Hässlichkeit, die mich um meine Aufmerksamkeit anschreit.

In Moritz Rinkes neuem Roman geht es nämlich um einen Postboten auf der Insel Lanzarote. Der ist niedergeschlagen, weil er mit seinem gelben Dienstmotorrad nur noch Reklame ausfährt. Seinen Beruf hat Pedro vom Großvater geerbt. Der hatte Empfängern, die nicht lesen konnten, die Briefe noch an Ort und Stelle vorgelesen. Und empfing die Antwort gleich als Diktat, schrieb sie nieder und nahm sie frankiert mit – Kondolenzpost wie Liebesbriefe. 

Beim Blick auf die unansehnlichen Kuverts mit Klarsichtfenstern auf meinem Frühstückstisch bin ich traurig wie Pedro. Nichts von Hand geschriebenes. Kein wattierter Umschlag mit einer Briefmarke, die noch angeleckt wurde. Wann habe ich das letzte Mal einen Liebesbrief mit Herzklopfen in den Briefkasten geworfen, anstatt mein Begehren ins Smartphone und zugleich in den digitalen Wortefriedhof zu tippen? Ich weiß es nicht. Schluss damit! Diese Kolumne soll ein Liebesbrief sein. Für dich, liebe Leserin. (Ausnahmsweise mache ich hier vom generischen Femininum Gebrauch und meine auch den Leser mit.)

Foto von Martin Peterdamm

Liebe, sehr verehrte Leserin,
ich seh dich vor mir. Der samtene Vorhang ist beiseitegezogen, dein Blick schweift zum Springbrunnen in deinem Garten, ein Eichhörnchen springt auf dein Terrassengeländer. Du öffnest mit einem vollendenten Lächeln die historische Doppeltür. Die Amsel in der Ferne singt ein beruhigendes Herbstlied in dein lockenumranktes Ohr, das sich allmählich den Klängen der Tagwelt öffnet. In diesem Augenblick kündigt Rosa mit einem zärtlichen Klopfen ihr Erscheinen im Salon an.

Auf einem silbrig schimmernden Tablett bringt sie dein Frühstück: eine reife aufgeschnittene Grapefruit und die köstliche Maracujafrucht, die du während eines Erholungsaufenthalts auf Mauritius so sehr lieben gelernt hast. Der frisch gebrühte Kaffee in dem Silberkännchen, das eine Jugendliebe mal aus einem Grandhotel für dich mitgehen lassen hat. Der Duft der Croissants lässt dich lächeln und du fährst genussvoll mit den Händen durch dein Haar, während ein Sonnenstrahl auf deinen Wangen tanzt. „Madame, ich lege Ihnen die Sonntagskolumne auf den Nachttisch, dann können Sie gleich wieder ins Bett gehen und diese dort in Ruhe lesen.“

Dass Rosa sich immer eine solche Mühe gibt und sonntags besonders früh aufsteht, um noch vor Sonnenaufgang mit der Feder meine Kolumne für dich auf Büttenpapier abzuschreiben, ist so eine feine Geste! „Bildschirme sind etwas für Informatiker“, sagtest du einmal, und dass du selbstverständlich auf keinen Fall jemals in so etwas Erbärmliches wie einen Laptop schauen würdest, und was „Laptop“ überhaupt für ein unverschämtes Wort sei, dass du nämlich deinem Schoß bestimmt keine Bürogeräte zuführen würdest.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


„Freigeister lesen beschriftetes Papier, das die Hand zu schmeicheln in der Lage ist.“   – Genau diese Worte hattest du mir per Telegramm zukommen lassen, als ich einmal höflich nachfragte, warum meine SMS’ immer unbeantwortet blieben, weißt du noch? „Nur Sklaven starren in kalte Geräte, die von zynischen Händlern ’smart‘ genannt werden.“ Ich schämte mich, als Opfer der Kommunikationsindustrie von dir durschschaut zu sein. Zu den Ahnungslosen zu gehören, die sich ausspionieren  lassen, um seelenlosen Algorithmen ihr Intimstes anzuvertrauen.

Ich will stattdessen dir, liebste Leserin, etwas Intimes anvertrauen: Mein Leben ist ein Abenteuer. Es ist mindestens so aufregend wie Pedros rasante Serpentinenfahrten mit der Diensthonda. Es ist so überraschend wie Menschen kennenlernen, nachdem man sie mit Vorurteilen bereits in der inneren Statik abgelegt hat und die dann plötzlich zu leben beginnen. Es ist deinetwegen so bewegt: du lebst wie eine sehr anspruchsvolle Mieterin im Grandhotel meiner Vorstellung und verschaffst mir schlaflose Nächte.

Außerdem bin ich vom Zwang gepeitscht, mir alles, was ich schreibe, sei es Musik oder diese Kolumne, als Beginn einer Liaison fürs Leben vorzustellen.  Solltest du, liebe Leserin, mir zurückschreiben, werde ich den Hoteldirektor bitten, mir deinen Brief so vorzulesen, wie es bei Pedros Großvater Sitte war. Und eine Grapefruit genießen.


Herzlich,
Dein Mark Scheibe

Wenn du jetzt noch das Lied für Moritz Rinke hören willst, hier ist es:

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Schreiben Sie ihm, er freut sich: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.