Heimweh und der Zauber der Achterbahn

Ein Grund fürs Leben im Hotel Art Nouveau: die glückliche Ruhe in Gegenwart von Menschen, die gerade etwas schönes erleben. Am Frühstückstisch neben mir sitzen vier erwachsene Frauen aus Süddeutschland, die mit einer magnetischen Hingabe Kaffee trinken und sich so gepflegt und leise über ihre Berlinpläne austauschen, dass ich sie zwar hören, aber nicht verstehen kann. Wer sind sie und was tun sie hier?

Der Anstand verbietet mir, zu offensichtlich dieser Runde anteilig zu werden und ihnen meine neueste Berlin-Empfehlung aufzunötigen. Also phantasiere ich das attraktive Quartett als Yogagruppe aus Freiburg, die nach gemeinsamem Asana ihrem Hauptstadt-Abenteuer entgegenglüht. Die in vollendeter Körperhaltung um den weißgedeckten Tisch sitzenden Ladies wirken so horizonterweitert, dass ich ihnen zutraue, die offensichtliche Erhabenheit in ihren Leben gelegentlich durch triviale Vergnügung ergänzen zu wollen; ich unterstelle ihnen, dass sie den herabschauenden Hund auf der Yogamatte zurücklassen und kreischend Achterbahnschienen entlangkrachen mögen oder auch mal beim Gegeneinanderbrettern im Auto-Scooter ausgelassen die Sonne grüßen wollen.

Gestern Abend komme ich nämlich mit dem Mietauto von Bremen nach Berlin, bewegt von existenziellem Zweifel in Form von Heimweh nach einem Zuhause, das ich nicht kenne. Als ich bei Spandau die Autobahn verlasse, strahlt mich ein neonblinkendes Riesenrad an. Ein Monolith der Romantik! Immer ist ein Riesenrad der Solitär der Langsamkeit. Inmitten einer Umgebung, in der Zügellosigkeit und Exzess die Doppelspitze der Vergnügungsfraktion bilden. Hier haben Zweifel Sendepause, da will ich hin. Die zeitlupigste aller Rummelplatz-Attraktionen lockt mich also ins rasende Inferno der bewusstlosen Hingabe an den sinnfreien Unfug.

Der Berliner Herbst-Rummel am Zentralen Festplatz. Feiern ohne Gäste hat etwas Magisches.

Ich suche den Parkplatz. Erstaunlicherweise ist das Gelände fast menschenleer. Trotzdem rotieren die Fahrgeschäfte, alle paar Meter drängt sich ein anderer Song ins Ohr. Zwischen Krake XXL und Break-Dancer blendet sich das sentimentale „Hotel California“ in den begleitenden Hintergrund von „Last night a DJ saved my life.“ Ich bitte die Leserin, sich das einen Augenblick lang bei geschlossenen Augen vorzustellen. Dann Lichter, Strobo, Gruselansagen mit Monsterstimmen, das saurierhafte Ausatmen der Geisterbahnhydraulik. Übermüdete Herren, die vor mehreren Jahrzehnten das Schild „Junger Mann zum Mitreisen gesucht“, gelesen hatten und seitdem auf den Jahrmärkten Europas die Wildwasserbahn auf-und abbauen, pflegen in Jeans und Lederjacke eine geheimnisvolle Kriminellen-Aura.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Links und rechts Schießbuden und Fress-Stände, gebrannte Mandeln, Knofibrot und Pferdewürstchen. Liebesäpfel, Zuckerwatte. Ein sonderbares Fahrgeschäft saugt mich geradezu an: Der „Melodie-Star“! Ich bin so hingerissen von dem Design dieses surreal wirkenden Karrussells, dass ich augenblicklich schneller darauf zugehe, um ja nichts zu verpassen. 12.000 bunte Lichter flackern an diesem Entertainment-Unikum, das sogar eine eigene Facebookseite unterhält. Im Glaskasten sitzt ein Mann mit fröhlichen Augen. Wer im Melodie-Star arbeitet, kann nur gute Laune haben! Ich scheue griesgrämige Misanthropen und mürrische Mimikmeider, hier bin ich richtig. Ich bin der einzige Gast und kriege trotzdem das volle Programm.

Sobald der Bügel meiner Gondel einrastet, dreht der Glaskastenmann die Musik lauter,  nimmt sein Mikrophon und brummt „Gleich geht es los hier und ab geht er, der Peter!“ Dann seh ich Nebel und blinkende Lichter in allen Farben. Allmählich setzt sich die bebende Raupe in Gang und gewinnt rasch an Tempo. Jetzt findet Raserei statt! Ich beginne zu lachen und vor Glück zu schreien, die Fliehkraft schmeißt mich an den äußeren Rand der Sitzbank, mein Schal flattert wie der Schweif eines Pegasus‘. „So soll mein Leben sein!“ rufe ich in den Fahrtwind, der meine Absichtserklärung einfach verschluckt. Genau das muss Goethe im Sinn gehabt haben, als er im Prolog von „Faust“ seinem Theaterdirektor diese Worte in den weisen Mund gelegt hat: „Bunte Bilder, wenig Klarheit, viel Irrtum und ein Fünkchen Wahrheit, so wird der beste Trank gebaut, der alle Welt erquickt und auferbaut.“

Zurück in die vornehm gedämmte Akustik des parkettknarrenden Stucksaals im Hotel Art Nouveau: ich stelle mir vor, wie ich den Freiburger Grazien meine Rummel-Orgie schmackhaft mache und probe stumm eine Ansprache:

„Meine Damen, darf ich Ihr Achterbahn-Swami sein? Folgen Sie mir auf dem Ashtangaweg zum Melodie-Star! Ich kenne das Sutra des vergnüglichen Unfugs! Namasté!“ Vielleicht ist das nicht fresh und berlinig genug, aber für Charlottenburger Verhältnisse hielte ich das für adäquat. Es bleibt aber Fiktion. Mir selbst und dir, verehrter Leser, gebe ich allerdings das Versprechen, dass ich die Reisegruppe aus dem Breisgau über ihr Schattendasein in dieser Kolumne in Kenntnis setze, sollte ich ihnen beim Frühstück noch einmal begegnen. Dann beschreibe ich ihnen auch den Weg zum Zentralen Festplatz am Kurt-Schumacher-Damm 207, da steigt der „Berliner Herbst-Rummel“ noch bis zum 17. Oktober. Ich gehe heute wieder hin, ich weiß, wo ich hingehör. Die Sache mit dem Heimweh hat sich übrigens geklärt.

Nachtrag: Erstaunlicherweise traf ich die vier Frauen, die ich schamlos zu Figuren meiner Autorenphantasie gemacht habe, gerade beim Frühstück. Sie wissen jetzt Bescheid. Hoffentlich fühlen sie sich hier wohl.

Mark Scheibe

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