Gebrandmakelt

Die Esoteriker hatten recht: alles ist Energie, Energie ist alles. Schlechte Zeiten für Verschwender. Vor ein paar Jahren dichtete ich in einem Song: „Kluge Leute sagen, es sei die Qualität, nicht die Quantität, um die es wirklich geht. Was soll dann einer wie ich machen, der nun mal auf beides steht?“ – inzwischen besitze ich ein Messgerät, das mir anzeigt, wieviele Kilowattstunden durch meine Stromleitung ballern, wenn ich aus reiner Bequemlichkeit Tag und Nacht den Computer anlasse, mit all den Festplatten und komischen Geräten zum Musikmachen. 

Ich habe ein paar hundert Euro in Bitcoins investiert. Wenn ich das richtig verstanden habe, ist der nichtmaterielle Bitcoin das Ergebnis hochkomplexer Rechenaufgaben, die eine Riesenmenge Strom verbrauchen. Der immense Energieaufwand sorgt wohl auch dafür, dass der Gegenwert des Bitcoin diebstahlsicher ist. Der Gegenwert dieser Währung gewordenen Idee ist übrigens so schwankungslustig wie ein kleines Segelboot auf stürmischen Hochseewellen. Gerade noch 43, dann – hui – runter auf 29 und wieder hoch auf 40. Tausend, wohlgemerkt. Sportliche Crypto-Cracks machen ein Vermögen mit Kurswellenreiten. Wenn der Bitcoin nicht physiysch real ist, ist er dann reine Energie? Philosophen mit entsprechender Denkerfahrung mögen das bitte beantworten. 

Das Studium der Philosophie abgebrochen hat ein junger Mann in einer Wohngemeinschaft in Berlin-Friedrichshain, erzählt mir Annabella. (Name v. d. Red. geändert). Er kam einfach nicht mehr dazu, die Uni zu besuchen. Die Bandbreite der Gesinnungen in dieser WG erinnert an das Auf und Ab der eben beschriebenen Hochseewellen: eine Politikwissenschaftsstudentin, die sich dem „Schwarzen Block“ zuordnet, der dauerbekiffte Ex-Philosoph und ein Polizeianwärter. 

Dieser Illustration ist nichts hinzuzufügen. Photo: Annabella (Name v. d. Red. geändert)

Der junge Mann im Staatsdienst entwickelt leidenschaftliche Gefühle für den cannabisumnebelten Denkmeister und lässt sich in nächtelangen Privatdiskussionen auf einen mentalen Zweitanz ein, der den begehrten Bekifften durch Höhenflüge genialischer Laberflashe peitscht. Er überredet ihn sogar zum „Hotboxing“: man baut eine Höhle aus Bettdecken und fackelt jede Menge Gras ab, sodass pures Atmen garantiert high macht. Dem Polizisten mangelt as an weltanschaulicher Bewegungslust, um dem Nirwana-Nihilisten in seinen Marihuanamonologen zu folgen. Leider gelingt den beiden nicht die Transformation der immensen Verbalenergie in den Strom der Lust. Die ganze Kraft verpufft!


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Friseurmeisterin Claire vom Salon „Vokuhila“ verschwendet keine Energie, um langweilige Sprachregeln zu bestätigen. Sie sagt statt „Nirwana“ zum Beispiel „Nevada“. Um völlige Verwirrtheit auszudrücken, sagt sie: „Ich bin wieder total im Nevada.“ Das läge in ihrer Familie, sagt sie, schon ihr Großvater erfand neue Sprichwörter: „Wir sind wieder auf dem aufsteigenden Dach!“ ist ein Bonmot, das ihm zugeschrieben wird. Claires schönste Wortschöpfung ist das Adjektiv „gebrandmakelt“. Ich liebe dieses lautmalerische Ergebnis beiläufiger Verdichtungskunst. Auch, wenn ich persönliche  Kritik für vergeudete Energie halte: von Claire würde ich mich brandmakeln lassen.

Eine „Hotbox“ würde sie womöglich „Kiffkäfig“ nennen. Das klingt nicht halb so attraktiv. Kurz malte ich mir nämlich aus, wie es wäre, im Hotel Art Nouveau nach noch ein paar mehr Bettdecken zu fragen. Aber ich brauche einen klaren Geist, um meinen Energiehaushalt im Auge zu behalten. Diese Kolumne hat 0,3 Kilowattstunden auf der Uhr. Ich wünsche einen herrlichen 1. Mai mit entspannten Polizisten, einem friedlich bekifften Schwarzen Block und uns allen neue Wortschöpfungen und fabelhafte Frisuren.

Mark Scheibe

Gefällt Ihnen diese Kolumne? Tauschen Sie sich mit unserem Artist-in-Residence aus: www.facebook.com/markscheibemusik

Schreiben Sie ihm, er freut sich: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.