S-Bahnfahren in Berlin

Vor der viralen Wartezeit auf die Wiederkehr der sogenannten Normalität nutzte ich täglich die Berliner S- und U-Bahnen. Das halte ich heute kaum noch aus. Niemand grüßt, wenn man eintritt. Das war früher selten anders, aber die Coronamonate haben mich etwas needy gemacht, was das Wahrgenommenwerden angeht. Statt wenigstens einen kleinen Willkommensapplaus zu spendieren, starren also alle nur auf ihre Handys. Ich muss an meinen Freund Edward denken, er hat in Oxford studiert. Spartenübergreifend wurden dort auch Umgangsformen unterrichtet, was für ein hervorragender Ansatz!

Von der Demütigung des Ignoriertwerdens erschüttert ziehe ich mich in der S-Bahn dann in eine Ecke bei der Tür zurück, wenn es geht. Zu meinem Verehrungsanspruch gesellt sich eine Empathieobsesession: manchmal kommen ältere Leute in den Waggon. Sie müssen stehen, weil niemand sie bemerkt und freiwillig Platz macht. Man ist schließlich beschäftigt, mit Tinder, Tiktok oder Telephonieren mit Lautsprecher. Ich stehe dann unter Harmonieherstellungszwang und Anstandssucht. Mein Gerechtigkeitstick nötigt mir ab, meine angeborene Schüchternheit zu überwinden. Ich hebe meine Stimme in Klang und Lautstärke so, dass sie sich innerhalb der vor mir liegenden drei mal vier Meter durchsetzt, ohne penetrant zu sein und frage mit der inneren Haltung eines freundlichen Strafrichters: „Würde jemand der jüngeren Herrschaften vielleicht so aufmerksam sein, der Dame einen Platz anzubieten.“ Das funktioniert meistens besser als ich dachte. Selbst finster dreinschauende Neuköllnbösewichte, die sich in ihrer Erscheinung an dem kriminellen Personal der Serie „4 Blocks“ orientieren, nehmen den Appell an ihre Ehre ernst, springen auf und ringen sich in beinah ganzen Sätzen Höflichkeit ab. 

Trinken in der S-Bahn? Ja, aber nur mit Haltung. Foto:  Collage aus Bildern v. Gabriele Kantel u. Martin Peterdamm. Bestimmte Rechte vorbehalten

Im Winter öffnete ich einmal ein S-Bahnfenster, weil ein Quartett vollgetankter Sauftouristen einen brechreizüblen Schnapsgestank ausdünstete. Einer quengelte wegen der unbahaglichen Windeskälte, beleidigte mich in einer Fremdsprache und schloss das Fenster. Ich öffnete es wieder. In solchen Situationen denke ich jedesmal, gleich blitzt irgendwo ein Messer. Hätte ich doch mehr Zeit mit Kung-Fu, Thaiboxen und Krav Maga verbracht als mit romantischen Diners bei Kerzenlicht! Es ist emotional für mich also sehr aufwändig, S-Bahn zu fahren. Nach einem Trip vom Ostkreuz nach Gesundbrunnen bin ich erschöpft. Meine Kraft reicht dann gerade noch aus, ein Taxi ins Waldorf- Astoria zu nehmen, um im Schutz einer hochflorteppichgedämpften Hotelsuite über den Dächern der Stadt bei Tierfilmen im ZDF-Nachmittagsprogramm zu entspannen.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Das wird jetzt mit dem 9-Euroticket nicht besser. Es gibt zwar keinen nachgewiesenen Zusammenhang zwischen Armut und dem Mangel an Anmut, ich weiß nämlich aus meiner Erfahrung als Barpianist in teuren Grandhotels, dass Geld in den Taschen der Gäste diese nicht zwangsläufig zu Nobelpreisträgern der Manierenkunst macht. Trotzdem erwarte ich von dem neuen Dumpingtarif umgekehrt keine Hochkonjunktur der Umgangsformen. Es könnte sein, dass mit der Preissenkung auch manche  Hemmschwelle auf moralisches Hartgeldniveau fällt: macht der hedonistische Berlin-User die Lache aus Erbrochenem und Bier noch weg, in der es sich auf der schunkeligen Schiene bequem macht, wenn er weiß, dass seine Reiseherberge für fast umsonst zu haben ist?

Die BVG denkt über die Einführung einer 1. Klasse in der S-Bahn nach. Viermal so teuer, aber mit Sitzplatzgarantie, Steckdose und W-LAN. Ich bin sehr dafür! Die Mitnahme soll aber nicht an den Fahrpreis gekoppelt sein, sondern an eine rasche, freundliche Prüfung des Anstandsniveaus. Eine Oxfordabsolventin soll von der BVG autorisiert werden, zu entscheiden, wer an Bord darf. Jeder neue wohlriechende Gast bekommt einen Begrüßungstee und verweigert sich keinem kultivierten Austausch unter dem Kronleuchter.

Mark Scheibe

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