Allein mit der Musik

Vor genau einem Jahr habe ich mich für ein Leben im Hotel entschieden. Ich hab mich zuhause einfach nicht mehr zuhause gefühlt. Seitdem wohne ich in Berlin-Charlottenburg in einer Suite mit Badewanne und Klavier im Hotel Art Nouveau. Ich bin viel unterwegs, spiele hier und da Konzerte, darf manchmal im Fernsehen auftreten, unterhalte geschlossene Gesellschaften auf Galas oder ziehe mich zum Komponieren in verlassene Ferienhäuser zurück. Einmal im Monat treffe ich meine Therapeutin. Sie fragt, womit ich gerade beschäftigt bin. 

Ich berichte ihr von der „Melodie des Lebens“: In der Gesamtschule Bremen-Ost treffe ich junge Menschen in ihrem zweiten Lebensjahrzehnt. Ich stelle ihnen Fragen, versuche, ihr Innenleben zu erfassen, und das Gehörte zu poetisieren. Ich schreibe mit den Jugendlichen Texte, die ihr Inneres ausdrücken und suche mit ihnen gemeinsam Melodien dazu. Dann wird gesungen, gespielt und geprobt. Anschließend komponiere ich daraus ein abendfüllendes Programm, das ich mit den Teen- und Prä-Teenagern eines sogenannten Brennpunkt-Stadtteils auf die Bühne bringe. Mit einem fabelhaften Orchester, der Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. Ein Orchester, dessen Mitglieder ihre eigenen Gesellschafter sind. Dem Konzert mit dem Sound der Adoleszenz habe ich den Namen „Melodie des Lebens“ gegeben. 

 

Als Komponist ist man verpflichtet, hin und wieder in Venedig spazieren zu gehen. Foto: Nicoletta  Fornaro

Vor ein paar Tagen war es wieder soweit: nach einer apokalyptischen Probenwoche, für die Nerven wie Stahlträger nicht die schlechteste Ausrüstung sind, brachten wir gemeinsam zwei Konzerte zur Aufführung, die mit Standing Ovations happy-endeten. Das Repertoire des Konzerts sind Uraufführungen. Klingende Bekenntnisse junger Menschen, die zwei Jahre pandemisches Ausgebremstwerden in ihren jungen Seelen tragen. Gesungene Klagen über Einsamkeit. Über die Angst, verlassen zu werden oder niemandem etwas zu bedeuten. Hymnische Verherrlichungen der Sehnsucht, ans Paradies des Partyfeierns. Leidenschaftliche Oden über die Lust an der Zerstörung, in der die Hoffnung des Schöpfens wohnt.

Die 14-jährige Maya shoutet über einen Perkussionshagel aus dem Orchester: „Alles, was ich vom Leben will, ist gemütlich mit dir zu chill’n. Abzuhängen mit dir, wie zwei schlafende Tiere, das ist was ich will.“ Ein Mädchen, das von Zuhause abgehauen war und von der Polizei wieder eingesammelt wurde, flüstert zu gläsernen Streicherakkorden diese Zeilen ins Mikrofon: „Für die mich lieben, bin ich da. Weil ich weiß, was es bedeutet, wenn man sich verliert. Für die mich lieben, bin ich da. Weil ich weiß, dass alles andere zu Einsamkeit und Trauer führt.“ Nach dem Konzert fragen Zuschauer, wie sie es schafft, dass alle eine Gänsehaut haben, wenn sie diese Sätze spricht. Sie sagt, sie denkt einfach ganz langsam an ihr Leben. Eine 17-jährige, die von ihrer Mutter aus der Wohnung geworfen wurde, singt mit der größten Sehnsucht, die in ihr wohnt: „Lass die Sonne untergehen, lass die Sterne auferstehen. Lass uns in der Dunkelheit verglühen. Wie der Himmel explodiert, wie sich alles neu sortiert. Eine neue Welt entsteht aus uns.“ Lea und Anton aus der 7. Klasse bekennen sich in einem Duett zur Gewalt: „Weil mir langweilig ist, tu ich dir weh. Und ich schlage dich, wenn ich dich seh.“ Das ist nicht halb so ironisch, wie es klingt.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


In den Nächten zwischen den Proben sitze ich mit meinem Skizzenblock vor einem großen Computerbildschirm und komponiere die Orchesterarrangements. Ich fühle mich nicht schlecht, nur weil ich diese wesentliche Arbeit auf den letzten Drücker erledige, ich kann es nur so. Unterbricht eine Panikattacke meinen Kreativitätsrausch, schaue ich einfach auf die Porträts von Vivaldi und Rossini, die waren genauso. Der Termin der ersten Orchesterprobe ist die reine Not, die es zu wenden gilt: ein paar Dutzend internationaler hochbezahlter Superkönner warten darauf, dass die Musik auf dem Pult liegt, jede verschwendete Minute kostet ein Vermögen.  Notwendigkeit – für mich der Geburtskanal der Kunst! Zu meinem Glück fallen mir die Ideen in die Hände, alles ist schon da. In vielen Nächten habe ich die Lieder geträumt, die Arrangements unbewusst schon aus dem „Äther“ abgehört und kann sie jetzt aufschreiben. Für Flöte, Englisch-Horn, Klarinette und Fagott. Melodien und Gegenmelodien, die so klingen wie die Gedanken, die miteinander ringen. Die langen Töne für das Horn, auf dem die schnellen insektenartigen hohen Holzbläser herumtanzen. Die Pauke, die den Blechbläserakkorden Raum nach unten schenkt. Die vielen Girlanden und Kaskaden, die aus einem Streichorchester einen fliegenden Teppich machen.

Ist alles gut komponiert und lässt sich gut lesen, sodass die Musiker es in zwei Proben fassen können und Lust haben, es auf das höchste Ausdrucksniveau zu bringen? Dann ist das Konzert. Die Bühne ist frei von Instrumentenkoffern, Jacken und Krempel, die Stuhlreihen sind da, wo sie sein sollen. Die Lichttechniker richten die Scheinwerfer mit ihren Effekten ein, vor dem Konzert ist Ruhe. Ich sitze am großen Steinwayflügel und spiele ein bisschen mit dem Klang des Raumes. Dann beginnt das Konzert. Am Ende stehen ein paar Hundert Zuschauer mit Tränen in den Augen und finden kein Ende ihres Zuspruchs. Ich höre noch die Stimme der 13-jährigen Elis in meinem Ohr: „Am liebsten bin ich allein, allein mit der Musik. Draußen ist Streit und Hass und Krieg, in mir drin ist Ruhe. Und Musik. Und jeder Kummer verfliegt, allein mit der Musik.“ Genau das fühle ich auch. Jetzt bin ich wieder im Hotel. Hier spüre ich das am besten.

Mark Scheibe

P.S.: eine Idee von der Melodie des Lebens zeigt dieser besondere Pandemiefilm von 2020.

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Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.