Coaching-Tourette

Auf meinen Prokrastinationswegen (Endspurt einer großen orchestralen Filmmusik, ich kann nicht loslassen, ich werde einfach nicht fertig) begegnet mir in der ARD die neue Serie „How to Dad“: ein Quartett mitteljunger Väter wartet im Café eines Tanzstudios auf die Vorschultöchter. Herrliches Rumgemacker unter vier Vätern mit unterschiedlicher Bewaffnung: der Startup-CEO demonstriert Wohlstand und mentale Überlegenheit. Der woke Hausmann vergibt Haltungsnoten und hat sämtliche Sensibilitäten im Blick, vor allem seine eigenen. Der breitbeinig sitzende Unterweltler wirft die anderen immer wieder auf den Boden der Tatsachen und findet im verbalen Nebel der Hochsensiblen und Abgehobenen zu seinem Feingefühl. Der ewig junge Influencer wird von niemandem ernst genommen, zeigt aber ein gutes Herz bei zweistelligem IQ.

Der Businessdaddy mit der teuren Armbanduhr hat eine Art Coaching-Tourette: unaufgefordert entweichen ihm Regelsätze zur Life-Optimierung: „Always remember – you are the best!“ ist noch eines der sanften Mantras, die der zärtliche Vater seiner Kleinen auf den Weg in den Ballettsaal mitgibt. „Du brauchst Me-time!“ Warum ist der Markt für selbsternannte Spezialisten der gekonnten Lebensführung eigentlich so groß geworden? Hier ein paar Original-Zitate der Webseiten von Coaches und Trainern: „Sind Sie bereit für Ihr neues Leben? Für mehr Klarheit, mehr Erfolg, mehr Glück und mehr Freiheit? Bringen Sie Ihr Leben auf die Erfolgsspur.“ Oder: „Würdest du gerne mehr aus dir und deinem Leben machen? Effektiver sein, besser, intensiver und nachhaltiger?“ 

Wenn ich soetwas lese, würde ich am liebsten sofort alles buchen. Mit jemandem über mein Leben sprechen, der wirklich etwas davon versteht. Eine Art Therapie buchen, nach der ich nicht nur gesund bin, sondern auch die Taschen voller Geld habe – genial! 

Wir glauben, Experten können uns von erfolglosen Tagedieben mit negativem Schufa-Eintrag zu Global Playern mit Platin-Amex machen. Dass sich die vollgemüllte Zweizimmerwohnung beim Autobahnzubringer – die mit der durchgesessenen Couch mit den Chipskrümeln in den Ritzen – gegen eine Villa am See eintauschen lässt, wenn wir nur diesen geheimen Schalter umlegen, der unser inneres Potenzial freisetzt. Womit sich dann unser im Verborgenen gewachsenes Genie der Gesellschaft offenbart und wir forthin von lächelnden Schönheiten mit lila Geldscheinen beworfen werden. Jahrelang antrainierte Passivität und die Internetsucht transformieren sich in einem Wochenendseminar zu vollendetem Unternehmertum und sozialem Hochstatus.

 

„Du bist ein Giver, ein Maker, ein Targethitter!“ Schauspieler Daniel Felix Adolf als Coachinglegende Dan Cigno erläutert sein „Schwan-Prinzip“. Foto: Axel Decker (Screenshot aus dem Film „Leben im Hotel Art Nouveau“)

Wie gläubig wir sind – in unserer aufgeklärten Zeit! Wissenschaftler erinnern zum Beispiel angesichts zunehmender Genderdiversität an die offensichtlichen biologischen Fakten, und dass die Geschlechtsorgane nicht aufgrund sozialer Prägung wachsen. In der Schweiz kann man sich sein Geschlecht jetzt aussuchen. Ich glaube, als junger Mann hätte mir diese Idee geholfen: als etwa 20-jähriger hatte ich große Schwierigkeiten mit dem, was allgemein als männlich galt. Entscheiden zu können, mich den autoritären Zuschreibungen zu entziehen, hätte mir und anderen „weichen“ Männern vielleicht Türen zu einem ausgeglicheren Selbstverständnis geöffnet, wer weiß. So eine Runde wie in der Serie „How to Dad“ wäre damals utopisch gewesen.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Vielleicht ist tatsächlich unser größtes Menschenpotenzial, dass wir kraft unserer Vorstellung die Welt verändern können. Ich glaube, wir müssen dafür noch ein bisschen trainieren. Zum Glück gibt es Coachingprogramme!

P.S.: gerade ist der Film „Leben im Hotel Art Nouveau“ fertig geworden. Weil der Konferenzraum ebendort für Seminare zur Verfügung steht, habe ich einen richtig krassen Coach ins Drehbuch geschrieben. Schauen Sie doch mal rein.

Mark Scheibe

Gefällt Ihnen diese Kolumne? Tauschen Sie sich mit unserem Artist-in-Residence aus: www.facebook.com/markscheibemusik

Schreiben Sie einen Brief: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.