Denkerpose im offenen Hemd

Morgen probt ein Orchester Filmmusik, die ich komponiert habe. Komponieren geht so: Man zieht sich an, als ginge man zu einem großen Fest, zum Beispiel dem Geburtstag der Queen. Dabei überwindet man die Angst, „overdressed“ zu sein. Man setzt sich nun bequem auf einen großzügigen Stuhl. Es schadet nicht, wenn dieser einem Thron ähnelt. Nun rutscht man mit dem Gesäß Richtung Stuhlkante, sodass der Körper unter einer beeindruckenden Spannung steht. Nun legt man die linke Hand angewinkelt auf den linken Oberschenkel, platziert den rechten Ellenbogen eine Handbreit hinter dem rechten Knie, ballt eine Faust, beugt diese und stützt sein Haupt mit ihr. 

Diese Pose ist eine dramatische Interpretation der Skulptur „Le Penseur“ (Der Denker) von Auguste Rodin. In dieser Haltung wächst der Selbstrespekt schnell, man beginnt sich während Selbstgesprächen schon nach kurzer Zeit zu siezen. Das ist wichtig: wer für die Ewigkeit komponiert, braucht Manieren, ansonsten wird das nichts. Die inneren Wächter der Umgangsformen sorgen dann dafür, dass mentale Störenfriede (ablenkende Gedanken, Zeitgeistquatsch) draußen bleiben. Nerviges Gehirnpersonal ist auf dieser Feier nämlich unerwünscht. Weder die Herren Selbstzweifel und Aufschub noch Madame Hoffnungslosigkeit, Frau Lähmung und Signora Angst sind eingeladen. Auch alle kleinen hässlichen Internet-Teufel aus dem sogenannten Telefon haben unter ihresgleichen zu bleiben oder sich andere Opfer zu suchen, die sich die Zeit stehlen lassen.

Das ist die Vorbereitung. Nun stellt man sich sämtliche Töne vor, die es gibt. Nacheinander hört man diese in der Vorstellung durch. Nur diejenigen Töne, die einem eine Gänsehaut spendieren, behält man. Alle anderen werden aussortiert, davon können Resteverwerter noch prima Musik für Warteschleifen zusammenleimen. Nun müssen die ausgewählten Töne nur noch in die richtige Reihenfolge gebracht und den Instrumenten im Orchester zugewiesen werden. Der Rest ist Sache der Musiker und der Dirigentin. 

„Le Penseur“ von Auguste Rodin. Hätte der Bildhauer seinem Denker noch ein offenes Hemd geschmiedet, hieße seine Skulptur vermutlich „Le Compositeur“. Das mit dem Faltenwurf war dem Meister aber wahrscheinlich zu schwierig. Deswegen: nur ein Denker. Foto: Wikimedia Commons

In der letzten Ausgabe der Geheimtipp-Talkshow „Thadeusz & die Künstler“ war die Dirigentin Christiane Silber zu Gast. Da gerade kein Symphonieorchester zur Hand war, komponierte ich eine Art Sprechmusik, die von den Talkgästen aufgeführt wurde, unter dem Dirigat von Frau Silber. Man sieht und hört Jörg Thadeusz und die Schauspielerinnen Sophie Rois und Liv Lisa Fries hochkonzentriert rhythmische Texte vortragen. Posaunist Sebastian Krol und Sängerin Anna Depenbusch haben richtige Noten bekommen und musizieren intensiv. Ich empfehle das! Ein Link zur ARD-Mediathek befindet sich am Ende dieser Kolumne.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Mit Sophie Rois verbindet mich die Neigung, das Hemd soweit aufzuknüpfen, dass Polarisierung entsteht. In der Sendung haben wir aus reiner Euphorie beide noch einen Knopf mehr geöffnet. Dies ist ein Nebeneffekt der durch Musik ausgelösten Freude, hier hat sie sich schon vor der Aufführung ereignet, als Vorabreaktion. Ich schwöre, die Komposition nach der oben beschriebenen Methode angefertigt zu haben. Die übriggebliebenen Töne sind mir zum Glück noch nicht wiederbegegnet. Ich hoffe, sie sind nicht in der Warteschleife der Telephonnummer vom Buckingham Palace gelandet.

Link zu „Thadeusz & die Künstler“ vom 24. Mai 2022, die Musik beginnt bei etwa 01:03:30, ARD_Mediathek.

Mark Scheibe

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