Der Bestimmer

Als Teenager habe ich manchmal Fahrräder mitgenommen, die nicht abgeschlossen waren. In meinem hormonumnachteten Gehirn fand dabei eine philosophische Explosion auf Pubertätsniveau statt. Der innere Hippie säuselte: es soll so sein, dass dieses Fahrrad durch mich Teil eines nützlichen Kreislaufs wird. Ich werde es nach Gebrauch auch stehenlassen, jemand wird sich freuen und es mir gleichtun. Somit gehört dieses Rad schließlich uns allen. Auch wohnte ein kleiner Sozialist in mir: wer so nachlässig mit seinem Eigentum umgeht, kann es sich auch leisten und erleidet keinen Schaden, wenn ich es ihm wegnehme. Der dritte innere Ruf war noch weniger elegant: Wer so blöd ist, sein Rad nicht abzuschließen, ist selbst schuld. Die offensichtliche Wahrheit, durch meinen Diebstahl für Kummer zu sorgen, stand mir nicht zur Verfügung.

Heute braucht keiner in meiner Nähe Angst zu haben: Ist dein Fahrrad weg, habe ich damit nichts zu tun. Es ist mir wichtig, in Einklang mit meinen Überzeugungen zu leben. „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“ ist ein Satz, der meiner Oma in passenden Augenblicken mit Nachdruck über die Lippen kam. Er taugt als Lebensmaxime, den meisten Menschen leuchtet das ein. Aber für den Fall, dass man zum Beispiel Hannibal Lecter begegnet, hatte meine liebe Großmutter keinen Reimsatz parat. Soetwas wie „Ist dein Feind ein Psychopath, streck ihn nieder, triff ihn hart“ konnte man von ihr nicht hören. Auch „Wer einen Mord in Auftrag gibt, ist keiner, der den Frieden liebt“ gehörte nicht zu Muddels Leitsätzen. Alle nannten meine Oma Muddel.

Als Hitler Russland überfiel, war sie 19. Sechs Jahre später musste sie mit zwei kleinen Kindern vor den neuen Machthabern fliehen. Das Wort „Machthaber“ fällt dieser Tage häufig. Es klingt nach kindlicher Allmachtsphantasie. Wer hat als Kind nicht probiert, „Ich bin der Bestimmer!“ zu rufen? Dabei dachte man, der kräftige Ruf schüfe auch die entsprechende Wirklichkeit. Denn Bestimmen ist geil. Kein 50 Shades of Grey ohne einen Bestimmer. Nur, dass die Unterwerfung da freiwillig passiert, sie ist Teil des Spiels. Zwei Flugstunden weiter östlich ereignet sich gerade der blanke Horror. 

So lässig kann man nur rumstehen, wenn man der Bestimmer ist.   Foto: Martin Peterdamm


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Die Katastrophen meines Lebens sind bisher nicht der Rede wert, verglichen mit der Kriegshölle, durch die Muddel und ihre Generation musste. Keine Bomben, keine Killer. Keine Panzer.

Ich konnte mich als Jugendlicher in aller Ruhe entscheiden, ich selbst zu werden. Ich werde dafür bezahlt, dass ich Musik erfinde und Konzerte mache. Und wenn ich mich mal unfrei fühle, lässt sich das mit meiner Therapeutin klären. Alles, was ich mache, passiert in Freiheit – geschützt von einer tatsächlich friedlichen Gesellschaft.

Ich finde es nicht übertrieben, in jeder Sekunde für dieses Leben hier dankbar zu sein. Darin bin nämlich der Bestimmer. Und keiner muss sich unterwerfen.

Mark Scheibe

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