Der haptische Kick des Manufactumkatalogs

Richard Wagner hat Seide und Samt durch seine Hände gleiten lassen, weil er den haptischen Kick brauchte, um Musik zu komponieren, die einen umhaut. Als Komponist und Songwriter suche ich genau das! Ich ziehe also den schweren Samtvorhang der Jugendstilsuite im Hotel Art Nouveau durch meine Handfläche und schließe die Augen. Noch will sich kein Zauberklang wie der Tristanakkord oder das apokalyptische Gebretter des Walkürenritts in meinem Geistesohr hören lassen. Noch nicht mal wagnerische Libretto-Alliterationen wie „Weia! Waga! Woge, du Welle, walle zur Wiege! Wagalaweia!“, die der Sound-Erotoman aus Sachsen der von ihm erdachten Woglinde  in den Sopran singenden Rheingoldmund gelegt hat.

Stattdessen höre ich den rohen Ruf des Bauarbeiters im Gerüst vom Haus gegenüber. „Jibma den Fuffzehner runter, du Flitzpiepe.“ Könnte er den Kollegen doch wenigstens in Versen um den 15er Schlüssel bitten! „Verehrter Geselle, Gefährte am Seil, reich mir das Werkzeug rasch her. Den eisernen Helfer zur Schraubung ein Weilchen zu nutzen, das ist mir mein drängend Begehr’!“ Worauf der Kollege dem Anderen nicht Schläge anbietet, sondern entgegnet: „Den Schlüssel zu finden sei mir nun Diktat. Ich eile zuhilf, teuerster Kamerad!“

Dieser würde das schwere Gerät auch nicht mit „Na also, jeht doch, du Backpfeifenjesicht!“ entgegennehmen, sondern rufen: „Ein Suchender war ich, bis du mir erschienst. Am Morgen noch wühlend in Kästen und Kisten, zur Dämmerungsstunde in dunklem Geräum. Nun will ich zum Dank dir im dauernden Bunde Gefolgschaft erweisen und ewigen Dienst.“

Richard Wagner beim Touchieren eines Fells zur Inspiration der Vollendung des Siegfried-Idylls, 1870. Foto von Franz Hanfstaengl

Ich weiß, dass ich träum. Dass sich die robuste Realität nicht durch Betatschen einer Gardine in ein poetisches Paradies verwandelt. Also müssen andere Kaliber her: der Samtvorhang ist dermaßen 19. Jahrhundert, er eignet sich wirklich nicht als Inspirationstool für zeitgemäßes Songwriting!

Auf dem Art Deco-Tischchen liegt allerdings ein Manuafactum-Katalog: das Druckerzeugnis, an dem man riechen möchte. Im Format einer Illustrierten, mit dem Gewicht einer Tagesdecke aus Brokatstoff. Der geniale Slogan „Es gibt sie noch, die guten Dinge“ schießt mir sofort in die Tränendrüse und ich will kein Handy mehr haben, sondern das Wählscheibentelefon aus Bakelit, dessen Kabel mit Baumwoll-Eisengarn umwickelt ist. Und das Stehpult mit Rindslederbespannung für den Monatslohn einer Opernsängerin! Augenblicklich will Wohlklang komponiert werden, wuchtige Wogen wabern in Wellen von Ohr zu Ohr, Orkane orgiastischer Oden offenbaren sich opulent.

Zum Glück ist Manufactum nicht weit vom Hotel Art Nouveau in der Leibnizstraße: Wie ein Mahnmal für Lebensgüte steht das Geschäftshaus des Händlers  sinngetränkter Qualitätswaren an einer der gewalttätigsten Architekturentgleisungen West-Berlins, dem Ernst-Reuter-Platz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts sollte hier nach dem Vorbild der Pariser Boulevards ein prachtvoller Platz entstehen, der die baumberankten Achsen der Stadt in feierlicher Umarmung vereint.

Hitlers Architekt Albert Speer ging noch ein paar Schritte weiter und vergrößerte den Durchmesser des Kreisverkehrs auf 230 Meter. Von der Welthauptstadt „Germania“ erzählen außerdem die noch immer leuchtenden Kandelaber am Charlottenburger Tor. Heute ist der Ernst-Reuter-Platz eine Zumutung an Verkehrskrach und -gestank mit einer zynisch wirkenden Grünfläche inklusive Springbrunnen in der Mitte.

Die Albert Speer-Kandelaber nahe dem Ernst-Reuter-Platz 1965. Foto: Wikimedia

Bei Manufactum angekommen, entscheide ich mich aus Budgetgründen gegen das Stehpult und das Wählscheibentelefon. Das Notizbuch der belgischen Firma „Atoma“ finde ich außerdem schlicht genial: Das A4-Papier ist bündig mit 11 Löchern versehen, die zum Rand hin geschlitzt sind. Die Löcher dienen Metallringen zur Befestigung, sie sind die Wirbel, die dem Buch sein Rückgrat geben. Zugleich hält das  Buch die Ringe fest. Ein leuchtendes Beispiel gegenseitiger Notwendigkeit und sinnvoller Abhängigkeit – wie bei Wagner, der die Sprache in Klang verwandeln und die Musik sprechen lassen wollte.

Für den Gegenwert einer Übernachtung im Hotel Art Nouveau plus Abendessen kaufe ich auch noch den Spezial-Locher fürs Atoma-System. Ich schätze, dass Richard Wagner seinen Gönner König Ludwig noch zur Finanzierung eines Manufactumladens auf dem Grünen Hügel in Bayreuth überredet hätte, wenn es diese Händler kultivierter Waren schon 1876 gegeben hätte.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Der freundliche Komponist mit einem Notizbuch von Atoma, bei Manufactum erworben. Foto : Martin Peterdamm

Ob mein Song „Blaue Stunde“ die Folge eines lustvollen Rendezvous mit dem Manufactumkatalog ist, will ich aus Gründen drohender Entmystifizierung des künstlerischen Schaffens lieber im Dunkeln lassen. Ich möchte Manufactum aber von Herzen empfehlen, mit diesem romantischen Chanson sein hochpreisiges Sortiment aus Schreibwaren und Bibliotheksmöbeln um „Musik“ zu ergänzen. „Es gibt sie noch, die guten Lieder“ ist gar kein schlechter Slogan für neue Tracks, deren Noten mit der Feder geschrieben werden. Die geneigte Leserin kann das durch Anklicken des folgenden Bildes überprüfen.

Mark Scheibe

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