Die Lust zu leben

Ich treffe meine iranische Freundin, die ich einige Jahre nicht gesehen habe, in einem Restaurant. Sie hat gerade ein paar Wochen in ihrer Heimatstadt Teheran verbracht. Was sie berichtet, klingt wie ein irres Abenteuer. Geschichten von Sittenwächtern, die auf den Straßen patrouillieren und im Namen einer Religion Frauen verhaften, die ihren Haaransatz nicht bedecken oder entblößte Handgelenke tragen. Das klingt am Tisch des vietnamesischen Restaurants um die Ecke von meinem gemütlichen Hotel Art Nouveau nach Filmszenen einer finsteren Dystopie.

Im Iran ist Alkohol verboten. Natürlich gibt es Schmuggelware und Privatbrennereien. Aber auch einen schmerzhaften Strafenkatalog: Ein Bekannter meiner Freundin musste nach zwei Tequila und einem Alkoholtest 75 göttliche Peitschenhiebe über sich ergehen lassen. Seine Verletzungen waren so schlimm, dass er wochenlang nicht sitzen konnte. In den meisten Fällen kann man zwar durch großzügige Zahlungen der heiligen Strafe entgehen, aber der Arme war gerade pleite und hat jetzt Narben für die Ewigkeit, die ihn bis zum Rest seines Lebens an den kleinen Schnaps-Schwips erinnern. Die Melodie von „Viva Mexicana“ wird ihm nicht mehr leicht über die Lippen kommen, wahrscheinlich gehört sie ohnehin zu den verbotenen Tonfolgen. Vieles von  dem, was für uns selbstverständlich ist, kann im Iran eine Hinrichtung zur Folge haben. Man wird erhängt oder ganz biblisch gesteinigt. Ein Joint kann tödlich sein. Interreligiöse Romanzen bringen die Hüter der Scharia in Exekutionslaune. Jede Form von Homosexualität ist natürlich auch lebensgefährlich. Sich zu schminken ist Frauen gestattet, innerhalb von Räumen. Sex ist Verheirateten erlaubt (miteinander).

Ob diese Party erlaubt würde, wenn die katholische Kirche für die Gesetze zuständig wäre? (Foto: Wikimedia Commons)


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Ich fragte die Freundin aus dem Morgenland, ob das auf die Stimmung schlägt und alle verängstigt seien. Sie lächelte mit der ganzen Strahlkraft des Orients und zeigte mir ein Handyvideo von einer Party. Ich dachte, für solche Bilder muss eine Berliner Werbeagentur sehr viel Geld ausgeben: ausgelassene Frauen und Männer, die auf den Tischen tanzen und glaubwürdig feiern, als gäbe es kein Morgen. Die so heftig das Glück zu leben zelebrieren, dass sie beim Tanzen und Umarmen weinen und lachen. Zu einer Musik, die einen ins Gefängnis bringen kann. Ich sehe auf dem Handyvideo Menschen, denen wichtig ist, wie sie wirken, die sich mit Phantasie und Idee anzuziehen verstehen, denen wichtig ist, dass ihre Erscheinung etwas über sie erzählt, so scheint es mir. Jede Feier bedeutet ein unkalkulierbares Risiko.

Ich schaue mich um: ein paar Tische weiter ein Mittdreißiger mit Turnschuhen, die so aussehen, als ob sie nicht gut röchen. Er redet dauerhaft auf die Frau gegenüber ein, die sich offenbar langweilt. Dabei hält er sein Handy fest in der linken Hand. Manchmal hört er auf zu sprechen und tippt etwas. Beide wirken übellaunig. Die Frau trägt einen Anorak. Ein leicht adipöses Männertrio in grauen Pullovern mit Hefeweizen. Zwei Büroherren mit fast identischen Juristenanzügen. Ich habe gelernt, Menschen nicht wegen ihres Aussehens zu verurteilen, das gehört sich einfach nicht. Andererseits sagt Oscar Wilde, weltweit anerkannter Experte für Lebenskunst, dass nur oberflächliche Menschen nicht nach Äußerlichkeiten urteilen und dass das wahre Geheimnis im Sichtbaren läge, nicht im Unsichtbaren.

Dieser Tage wird in den Nachrichten offenbar, was für ein übler Trupp bigotter Gewalttäter von der katholischen Kirche geschützt wird. Sogenannte Würdenträger, deren verhinderte Sexualität sich an Kindern entlädt, waren unter den Augen des Rechtsstaats von polizeilichen Untersuchungen ausgenommen. Ich habe den optimistischen Eindruck, dass mit diesem Privileg bald Schluss ist.

Ich finde, wir alle sollten viel, viel ausgelassener feiern. Jeden Tag. Ob mit oder ohne Alkohol, Drogen oder Sex-Orgien. Einfach aufrichtig und dankbar das Leben feiern.

Mark Scheibe

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