Ein rotes Horn

Eigentlich sollte das eine Kolumne sein, an deren Ende eine überraschende Erkenntnis prangt. Eine geniale Logik, die ich aus dem geheimnisvollen Raum zwischen den Zeilen heben würde. Mit sprachlicher Eleganz, ganz lässig.  Allerdings habe ich heute Nacht turbulent geträumt:

Ich treffe meinen Vater im Restaurant eines Grandhotels. Dort führt eine größere Gruppe ein ernstes Gespräch mit dem Kellner, nachdem dieser sich erkundigt hatte, ob mit dem Essen alles in Ordnung wäre. Die Damen und Herren der Gruppe empören sich. Die Damen tragen Halstücher, auf denen „Hermés“ steht. Die Herren: 60-jährige Juristen. Alle mit Krawatte, manche schon im Mantel (Trenchcoat von Burberry), andere tragen den Mantel über dem Arm. „Zuviel des guten“ ist die kollektive Kritik am Koch. Es bringe nichts, ein Safranrisotto noch mit Chili zu würzen und ein Schäumchen von der Gänseleberpastete am Tellerrand zu drapieren. Zumal dort schon ein Parfait von der Pfirsichspalte in einem Nest der karamellisierten Aubergine liegt. Im eigenen Jus. Wobei Tranchen von der glacierten Erbsenschote das kulinarische Barockwerk auf dem großen Teller ergänzen. In einer Rosenkohlcreme aus der Jacobsmuschel. Der Kellner versteht. Die Gruppe bleibt, trotz ihrer Erschütterung, wohlwollend. Man ist bereit, es bei einer Mahnung zu belassen.

Mit meinem Vater spaziere ich durch einen stillgelegten Stadtteil, der einem Berlin-Kreuzberg der 80-er Jahre gleicht. Offensichtlich ist der Bezirk ausgestorben. Die Ruhe gefällt mir. Im Dachgeschoss eines Jugendfreizeitheims sitzen wir im Licht der sonntäglichen Nachmittagssonne auf einer riesigen Matratze. Aus einem Cassettenrecorder ertönt Duke Ellington, ganz leise. Im Sonnenlicht tanzt der Staub. In einem besetzten Haus treffen sich anarchistische Bauarbeiter zu einer Dienstbesprechung. Dort hält Ken Jebsen einen Vortrag über ein legendäres Berliner Bordell, das die Wiege des Varietés gewesen sein soll.

 

Aus diesem Kassettenrecorder erklingt Duke Ellington    Foto: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Habe eine Romanze mit einer stämmigen Frau in einem dünnen Baumwollkleid. Sie kommt, allein, indem ich sie durch den Stoff sanft berühre. Ich freue mich über ihren Orgasmus und erkaufe mir Ruhe vor Begehrlichkeit durch ihre Befriedigung. Sie fragt, ob ich sie liebte. Es erscheint mir weniger aufwändig, ja zu sagen, als mich durch Zurückweisung in Schwierigkeiten zu bringen. Hebe sie hoch, sie ist schwerer als ich dachte. Liege mit ihr auf dem Sofa und telephoniere mit meiner Astrologin Elfa Sabetho, die mich versteht. Sie empfiehlt, nur noch Unterwäsche der Schweizer Marke „Zimmerli“ zu tragen, genau wie Claus Peymann. Auf meiner Stirn wächst ein rotes Horn, es schenkt mir eine gewisse Ruhe. Die berühmte Hochstaplerin Tespe Brockfeld platzt in den Raum herein und reißt die Duke-Ellington-Kassette aus dem Gerät. Den dabei entstehenden Bandsalat serviert sie der Dame mit dem Baumwollkleid und mir auf den gleichen Tellern wie denen aus dem Restaurant. „Trügen wir unsere Genitalien“, so hebt sie mit bebender Stimme an, „auf der Stirn“, führt sie mit euphorisiertem Ausdruck fort, „gäbe es womöglich keine Kriege. Guten Appetit.“

So hat das mit der Logik und der Erkenntnis am Ende dieser Kolumne doch noch funktioniert, denke ich.

Mark Scheibe

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