Lonely Media

Als ich volljährig war, wollte ich mit aller Gewalt das Leben meines Vaters nachgestalten. Ein Jahr zuvor, als ich 17 war, hatte er sich aus dem Diesseits verabschiedet. Nach einem Lebenslauf, gegen den eine Achterbahnfahrt mit fünf Loopings ein Spaziergang ist, mit nicht einmal 40 Jahren. Vieles, was ich heute tue, kommt von ihm: mein Vater spielte Klavier und sang. So richtig einzusteigen in die Hingabe an den Musikerberuf war aber nicht seine Sache. Er ließ sich einfach zu gern treiben, sein Zuhause war der Exzess: der Vollrausch, lustvolle Begegnungen en gros, manischer Optimismus – mitsamt all den schmerzhaften Gegenkräften. Madame Einsamkeit und Baronesse ohne Hoffnung lagen immer häufiger mit im Liebesnest. Die Eheleute Tod und Tristesse leisteten ihm am Tresen finstere Gesellschaft.

Ich streifte also mit 18, 19 Jahren durch die Kaschemmen, in denen mein Vater zuvor aufgefallen war, und tat es ihm gleich: ich zechte die Nächte durch, trug seine Anzüge auf und den schwarzen Ledermantel. Manchmal war ich noch mittags unterwegs. Mir gefiel die Gleichzeitigkeit von Zügellosigkeit und Melancholie. In zahllosen trunkenen Romanzen fand ich mich und formte meinen Charakter. Dabei wusste ich immer, dass ich nicht vollends in die Düsternis der Sucht stürzen würde. Dass ich das alles nur tue, um meine Persönlichkeit wachsen zu lassen. Nachdem ich begann, das Experiment Maßlosigkeit auch auf Kokain und Heroin auszudehnen, hatte ich genug gelernt, der Barhocker hatte als Schulbank ausgedient, der Tresen seine Aufgabe als Studienpult erfüllt. Mir wurde klar, dass ich im Reich der Süchtigen zum Glück nur ein Zaungast bin.

Heute aber sehe ich: sie haben mich doch am Haken. Ich hänge an der Nadel. Die diabolischen Produktdesigner der Firma „Addictive Entertainment“ haben es geschafft. Ich bin auf ihren Slogan „Du kannst alles sofort haben und es ist gratis“ reingefallen und jetzt Platinkunde beim Onlineteufel: durchschnittlich 4 Stunden und 12 Minuten habe ich in der vergangenen Woche offenbar täglich mit Instagram und Facebook verbracht. Fragte  mich jemand, ob ich soviel Zeit am Tag übrig hätte, bimmelten mir die Adrenalinwarnschellen rasend um die Ohren – ich habe soviel damit zu tun, meine Kompositionsaufträge fertigzustellen, Songtexte zu schreiben, Proben zu organisieren, Noten einzurichten, nebenbei Konzerte zu buchen und mein eigener Manager zu sein, dass ich bestimmt nicht einen halben Arbeitstag lang virtuellen Schaufensterbummel betreibe. Mach ich aber doch! Unbewusst noch dazu.

Ob man mit diesem Telephon ein Selfie machen kann?. Photo: Therese Lösch


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Es macht dann doch Spaß, zu schauen, wer da ein Herzchen hinterlassen hat, was diese oder jene Schulfreundin so treibt und wer sich da über wen aufregt. Außerdem der personalisierte Gruselfilm: alte Bekannte inszenieren sich als agressive Verkünder der reinen Wahrheit, erfolglose Schauspielerinnen sind jetzt Kreavitätscoach und werben mit bezahlten Posts um Kundschaft. Und ich mittendrin:

„Nie mehr Gefangener sein, in keinem Netz! Wieder Verlangen spüren, im Hier und Jetzt!“ ICH SCHMEISS MEIN HANDY WEG ist da: ich singe am Flügel im kontradigitalen Wohlklang eines Worldclass-Streichensembles, einer lässig swingenden Rhythmusgruppe mit Tanzmusikcharme und dem Closed Harmony-Sound eines Gesangsquartetts mit E-Musik-Hintergrund. Nur wer kein Herz hat, hört nicht hin. Link zum neuen Video in der Bio.

Wenn ich mit der Bratschenstimme in meiner Filmmusik nicht weiterkomme, grabsch ich das Handy und habe einen kleinen Glückskick: @narineyeghiyan und @kerrieluft liken meinen Beitrag. Mögen sie meine Musik? Mögen sie mich? Was, wenn nicht? Das Gedankenkarussell fährt Geisterbahn.

In meinem neuen Song schaffe ich nur in der Phantasie radikale Verhältnisse: mein Handy wegzuschmeißen bin ich noch nicht bereit. Auch wenn ich mich danach sehne, statt Instaposts und Messenger-Tweets Telegramme und handgeschriebene Briefe zu empfangen, beim späten Frühstück im Seidenpyjama mit dem Brieföffner zu hantieren und beim Lesen den guten Hotel Art Nouveau-Kaffee zu genießen. Ich kann das ja mal posten.

Mark Scheibe

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Schreiben Sie ihm, er freut sich: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.