Rembrandt und der Anorak

In der Berliner Gemäldegalerie hängt das berühmte Portrait „Der Mann mit dem Goldhelm“. Mehr als 300 Jahre lang stiegen Wert und Status dieses Meisterwerks des berühmten Niederländers Rembrandt van Rijn unaufhörlich. Bis Mitte der 1980er Jahre. Dann kamen Schlaufüchse aus der Expertenwelt. Die sagten: es steht zwar „Rembrandt“ drauf, gemalt hat das Bild aber werweißwer. Von da an ging es rapide bergab mit dem Goldhelmkurs.

Exklusiv für meine Kolumnenleser*innen habe ich das geniale Gemälde „Der Mann mit dem Goldhelm“ impersoniert.

„Ist ja nur Fake“ denken die Leute jetzt und gehen lieber zu den Dürerzeichnungen, da gibt es keinen Zweifel an der Urheberschaft. „Genial, dieser Federstrich! Kein Vergleich zu dem mittelmäßigen Stil und dem viel zu fetten Impasto bei dieser erbärmlichen Rembrandtkopie!“ Vorher war „Der Mann mit dem Goldhelm“ ein Star – Kopien hingen, barock gerahmt, in unzähligen Stuben und bildeten ab, wie man sich gern sah. Womöglich dachte man, unter einem goldenen Helm wohnten nur die edelsten Gedanken. Der enorme Rangverlust des legendären Gemäldes war für viele ein Schock. Es ist zwar noch immer dasselbe Gemälde, nur hat es seit dem Experten-Diss seine Sexyness eingebüßt.

Umgekehrt ist es beim Anorak. 1989, kurz nach dem Fall der Mauer, tauchten in meiner Heimatstadt Bremen die ersten Menschen aus der DDR auf. Sie waren leicht an ihrer Kleidung zu erkennen: man hatte den Eindruck, dass das Modeangebot im Sozialismus nicht ausreichte, um seine eigene Erscheinung individuell und geschmackvoll zu gestalten. Man spürte eine beklemmende Mischung aus Mitgefühl und schlechtem Gewissen: man schämte sich, Äußerlichkeiten so hoch zu bewerten. Schließlich war man im Westen nicht gewohnt, irgendetwas nicht kaufen zu können. Im Osten trug man damals vor allem Anoraks und Windjacken. Irgendwie wurden diese im Verlauf der 90er Jahre als unfreiwilliges Bekenntnis zu modischer Bildungsferne interpretiert und waren schneller verschwunden als der Palast der Republik abgerissen wurde.

DDR-Bürger auf dem Alexanderplatz im November 1989: Anoraks allerorten. Photo: Wikimedia Commons, Ralf Roletschek

Der Anorak unter den Regierungsgebäuden: Palast der Republik. Photo: Wikimedia Commons

Dass sich  Unterprivilegiertenkleidung zum modischen Hype hochpushen lässt, wissen wir, seit Berliner Berufsjugendliche Turnschuhe ohne Schnürsenkel tragen. In amerikanischen Gefängnissen sind Schnürsenkel verboten, weil sie auch als Suizidwerkzeug einsetzbar sind. Genau wie Gürtel, deswegen trugen ja soviele Menschen (überwiegend Herren) eine Zeit lang ihre Hosen auf halb 8. Dieser Tage erleben wir eine Renaissance des Unterschichtenjackets: der Anorak ist zurück! In den woken Clubs in Berlin-Mitte, vorm Späti in Neukölln und in der Bar Normal auf der Kastanienallee würde man sie rascheln hören, die Plastikjacken, wenn man nicht so schreien müsste.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Noch in der vorigen Saison hätte man keinem 10-Jährigen mit einem Zebra-Anorak kommen können. Allenfalls der spießigen Erbtante hätte ein durchschnittliches Kind nach elterlichem Beschwichtigungsgespräch ein Windjackenmitbringsel von Peek & Cloppenburg durchgehen lassen. Und dieses mit Schaudern bei jedem Verwandtschaftsbesuch vorgeführt, verzerrt lächelnd. Durch die Fremdbestimmung erniedrigt, hätte das Kind eine schlechte Körperhaltung entwickelt und X-Beine bekommen. Als Folgeschaden der gebrochenen Mündigkeit hätte es noch ein nicht zu bewältigendes Zahnspangentrauma mit auf den Weg bekommen.

Plötzlich ist die ungeliebte Prä-Teenager-Kleidung aber der höchste Ausdruck genderübegreifender urbaner Mode. Was der Standardwetterschutz in der untergehenden DDR war, ist heute das Kleidungsstück, mit dem surreal gesinnte Großstädter einem konservativen Eleganzdiktat entgegenrascheln. Heute tragen selbst Trendavantgardisten die vormals stigmatisierte Kunststoffjacke vom unteren Rand der Gesellschaft. Hier ein aktuelles Photo der schillernden Musikerin Natalie Plöger:

Natalie Plöger im Zebra-Anorak von Iriedaily. Photo: Philip Krause

Wenn die stilbewusste Sängerin mit dem Kontrabass nicht in den Theatern und Fernsehstudios der Stadt jazzt oder Tchaikovsky spielt, chillt sie gern am Alexanderplatz, seit ein paar Tagen nur noch mit ihrem geliebten Zebra-Anorak, Marke „Iriedaily“.  Schätzungsweise dauert es noch ein paar Jahrzehnte, bis man in Berlin wieder einen goldenen Helm tragen kann, ohne für einen prätentiösen Kretin gehalten zu werden. Vermutlich wird vorher der Palast der Republik wieder aufgebaut.

Mark Scheibe

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P.S.: Natalie Plöger ist am Dienstag, dem 22.2. um 23:15 im RBB-Fernsehen zu sehen und vor allem zu hören.