Ruhe, bitte!

Vom Wohlklang zum Krach, vom Knistern bis zum Lärmen, der Sound hat viele Namen. Wir benennen die Samtigkeit einer schönen Stimme und ein schneidendes Timbre. Wir unterscheiden Poltern vom Rumpeln und Klötern vom Klingeln. Aber wir kennen nur eine Stille. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, ich sehne mich nach ihr. Ich freue mich über jede von mutwilliger Beschallung freie Minute. 

In Wien im Kaffeehaus: Den ganzen Tag lang bildet nur knarrendes Parkett die akustische Umgebung, mit Geräuschen vom Silberbesteck auf Porzellan. Wortfragmente diskreter Gespräche dringen hier und da ans Ohr, draußen bimmelt die Straßenbahn. Mir genügt das als Soundtrack. Diese Hörspielkulisse ist aufregend genug, ihr zuzuhören. Sie ist beruhigend genug, um von ihr nicht gestört zu werden. In Berlin ist so ein Café nicht zu finden, dabei ist ohnehin schon alles sehr laut. Jedes Restaurant beschallt seine Gäste, meist ohne jede Idee. Dabei legen viele Cafés großen Wert auf eine extraordinäre Ausstattung. Kostspielige Innenarchtektinnen haben für vollendete Farbabstimmung und erhabenes Mobiliar gesorgt.

Ob und wie ein Raum klingt, ist den Damen und Herren Gastronomen aber offenbar egal. Gedudel ist überall, aus den Lautsprechern pumpt bestenfalls Kirmestechno oder lizenzfreie Musik, wie sie auch in Pornofilmen benutzt wird, um die GEMA-Abgabe zu umgehen. Oder es läuft einfach das, was die durchsetzungsfähigste Servicekraft privat gerne hört.

In einem italienischen Restaurant, das mit „Atmosphäre“ angibt, zippelt dann stressiger Minimal-Elektro aus allen Ecken. Wenn man Pech hat, wurde den Wirten Deckenbeschallung aufgeschwatzt. Dann hängen alle paar Meter runde Membranen in der Deckenvertäfelung, sodass auch der hinterste Tisch im letzten Winkel garantiert unter der Sound-Dusche steht. Selbst in Grand-Hotels, die einem fürs Übernachten die Monatsmiete eines WG-Zimmers in Berlin-Lichtenberg berechnen, klingelt musikalisches Fastfood aus den Luxuslautsprechern.

McDonald’s für die Ohren. Warum eigentlich? Was ist an Stille so bedrohlich? Selbst im von mir so geliebten Hotel Art Nouveau singt zum Frühstück leise Pavarotti. (Ich komme meist kurz vor Ende der Frühstückszeit, dann bin ich der einzige Gast, man stellt mir dann freundlicherweise die Musik aus. Keine Ahnung, ob dabei jemand mit den Augen rollt.) Der Obstsalat ist schon so ein Kunstwerk: stundenlang hat Ludmilla Ananas, Mangos, Birnen und Mandarinen zerkleinert, Walnüsse mit dem Mörser zerbrochen und den Honig in kleine Schälchen geträufelt, dazu dieser Wunderkaffee aus der italienischen Siebträgermaschine – das ist schon eine Orgie für sich.

Während dieser Geschmacksparty scheint es mir unangemessen, vom größten Tenor aller Zeiten daran erinnert zu werden, dass wir alle sterben müssen. Dass sie sterben müssen, würde ich gern dem selbstgenügsamen Paar im Zoo-Palast drohend zurufen. Die beiden sitzen in ihren Raschelanoraks in Karoline Herfurths „Wunderschön“ ein paar Kinosessel neben mir und löffeln klingelnd im Cappucino rum. Als die Tassen endlich abgestellt sind, nesteln sie an ihrer Gummibärchentüte.


Albtraum für die Augen: visuell animierter Lärm (Foto: Nevit Dilmen, Wikimedia Commons)


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Ich bin traurig, dass der Zoo-Palast und die anderen Kinobetreiber das erlauben. Ich weiß, es hat mit Geld zu tun. Aber wer Filme wirklich liebt, stopft währenddessen keine Chips in sich rein, meine ich. Man isst ja auch nicht beim Sex, zumindest nicht nebenbei. In der Neuen Nationalgalerie mampft auch niemand Popcorn vor Picassos „Dora mit aufgelösten Haaren“.

Vielleicht ist das aber die Subventionsergänzung, die den Museen irgendwann das Leben rettet: Kleine abgeschnittetene Weingummi-Öhrchen in der Van-Gogh-Ausstellung. Hochkulturlollis, die dem Gesicht von Edvard Munchs „Der Schrei“ nachempfunden sind. Popcorn bei Warhol. Ein leckerer Fett-Dip, damit man beim Schlendern durch die Joseph-Beuys-Retrospektive weiß, wohin mit den Fingern, wenn man schon nichts anfassen darf. Wenn dann alle gemerkt haben, dass man mit dem Klang der Welt so sorgfältig umgehen kann wie mit dem, was man sieht, gibt es vielleicht auch mehr Wörter für die Stille. Ich lege mir jetzt eine Leerkassette in meinen Walkman und lausche dem Rauschen.

Mark Scheibe

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P.S.: als Darsteller habe ich wegen Lärms schonmal getötet. Das brachte in diesem für Radio Bremen produzierten Filmchen den Rundfunkrat auf den Plan. Danach durfte ich keine Filme mehr machen, sondern nur noch unter Aufsicht im Studio singen.