Übers Scheitern

Ich habe vor ein paar Tagen an einem großen Benefizkonzert für die Menschen in der Ukraine teilgenommen. Gemeinsam mit Chor, Orchester und freien Ensembles haben wir statt Eintritt fast 25.000 Euro Spenden einsammeln können. Die Freiheit zu zelebrieren und gemeinsam die Kostbarkeit unserer Demokratie zu spüren, war tröstend und schenkte Hoffnung. Dann saß ich im Wartezimmer eines Zahnarztes. Plötztlich kam jemand herein, mit dem ich vor 22 Jahren in ein Theaterprojekt in Bremen verwickelt war. Die sechswöchige Probenphase hatte damals gerade begonnen, da fragte ein Berliner Theater für eine Produktion an, die augenblicklich starten sollte, die Premiere würde einen Tag nach der in Bremen sein. So etwas ist eigentlich unmöglich zu schaffen, ich aber sagte zu. Im Rausch der Maßlosigkeit, in postinfantilem Alleshabenwollen. 

Jeden Morgen fuhr ich mit dem 6-Uhr Zug von Bremen nach Berlin, jeden Nachmittag um 16 Uhr flog ich mit einem kleinen Flugzeug der OLT (Ostfriesische Luftfahrtgesellschaft) vom Berliner Flughafen Tempelhof nach Bremen, um pünktlich bei der Abendprobe zu sein. Dieses Leben war so aufwühlend, das musste dann gefeiert werden. Nach der Bremer Abendprobe, berauscht von meinem Jetsetleben, stürzte ich mich in die Fluten der Nacht, in den Schein der Lavalampen, ins Zwielicht aufregender amouröser Fadenscheinigkeiten. Morgens in der Eisenbahn nach Berlin schlief ich meinen Rausch aus. So ging das bis zur Bremer Premiere. Zeitgleich flog ich in Berlin raus, weil ich dort der Generalprobe fernblieb. Das hat man mir als verantwortenden Komponisten nicht verziehen. Die Premiere wurde verschoben, jemand anders für die Musik engagiert, die Rechtsabteilung des Theaters wollte mir alles in Rechnung stellen. Ein schmerzhaftes Scheitern.

2006 spielte ich auf einer großen Gala im Berliner Ensemble. Es ging irgendwie um Brecht. Die High Society der Theaterszene war da, der größte Star des Abends war die Italienerin Milva. Mit ihrer feuerroten Haarmähne sang sie Kurt Weills „Surabaya-Johnny“ derart expressiv, dass man weinen musste. Ich hatte das große Glück, sie auf der Hammondorgel dabei zu begleiten. 

 

Milva, the one and only.   Foto: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Beim Schlussapplaus standen alle auf der Bühne, die an der Produktion beteiligt waren. Vorn in der ersten Reihe die Stars, dahinter alle anderen. Es begab sich zufällig, dass ich direkt hinter Milva stand, neben ihr der damalige Bürgermeister von Berlin, Klaus Wowereit. Dann gab es eine Zugabe. Der Chansonnier Max Raabe sang einen Walzer. Aus der ersten Reihe bildeten sich Paare, die dazu tanzten. Ein verwegener Impuls pumpte mir Adrenalin unter die Haut: ich könnte mit Milva tanzen, vielleicht, dachte ich. Die Stimme der Mäßigung verpasste mir einen Faustschlag: Nimm dich nicht so wichtig! Mit dem Star des Abends zu tanzen, ist die Aufgabe und das Privileg des Regierenden Bürgermeisters! Der Bürgermeister aber tat nichts.

Milva schaute nach links – keiner machte Anstalten. Sie schaute nach rechts. Nichts. Was sind die uomini tedeschi nur für stillose Männer, muss sie gedacht haben. Sie drehte sich sogar um. Kurz schaute sie in meine Augen. Ich verpasste den Augenblick. Dann umarmte Milva sich selbst und walzerte übers Parkett des Brechttheaters. Ich schaute zu. Ein schmerzhaftes Scheitern.

Im Augenblick zu denen zu gehören, die zusehen, wie ein offenbar herzloser Wahnsinniger Massenmord begehen lässt, ist die schlimmste Art zu scheitern.

Mark Scheibe

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