Übers Zögern

Es gibt einen legendären Sesamstraßensketch mit Ernie & Bert: Ernie will baden, Bert ist wie immer genervt, weil er weiß, dass jede Aktion Ernies ihn seine Ruhe kostet. Denn Ernie geht nicht einfach normal in die Badewanne, er nimmt außer seinem Quietscheentchen auch eine Taschenlampe mit, einen Regenschirm und einen Ball. Das macht Bert fertig. Ernie erklärt, dass er die Taschenlampe braucht, falls der Strom ausfällt: dann soll sich das Quietscheentchen nicht im Dunkeln fürchten müssen. Außerdem könnte es sein, dass es im Badezimmer durchs Dach regnet, dann soll das Quietscheentchen nicht nass werden, zumindest nicht von oben. Um für die Eventualität vorbereitet zu sein, dass jemand vorbeikommt, um sich einen Ball auszuleihen, nimmt Ernie diesen mit und hält gutgelaunt aus, dass Bert sämtliche Synapsen durchknallen. 

Es dauert nicht lang, da wird es schlagartig dunkel, im Badezimmer fällt der Regen und ein Fremder spaziert herein, dem für ein Fußballspiel der Ball fehlt. Bert ist gefangen in seiner aufgeräumten Vorstellungswelt, in der die Naturgesetze gelten. Er weiß, welche ungeheure Energieverschwendung es ist, sich auf sämtliche Unwahrscheinlichkeiten des Lebens vorzubereiten. Und er steht am Ende als der Dumme da.

In meiner militärischen Naivität als ahnungsloser Sofageneral wünsche ich mir, unser Kanzler wäre mehr Ernie, weniger Bert: „Hier sind Panzer und Raketen, liebe Ukraine, verteidigt Euch weiterhin so tapfer und zwingt den Unmenschen Putin in die Knie und dann ins Gefängnis. Nur weil wir selbst Angst vor dem bösen Terrormilliardär haben, der seine Gegner vergiftet oder wegsperrt, schauen wir selbstverständlich nicht einfach weg. Wir helfen Euch – und weil es gerade nicht anders geht, mit tödlichen Waffen. Denn Ihr seid nicht schuld an diesem Horror.“

 

Ernie & Bert, hier auf einer Bremer Hauswand. Photo: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Ich schaue zu, wie zwei Flugstunden weiter östlich gemetzelt, vergewaltigt und hingerichtet wird. Würde ich selbst hinfahren und ein Gewehr in die Hand nehmen? Auf keinen Fall! Das Zögern unserer Regierung erinnert mich schmerzlich an mein eigenes, ängstliches Zaudern: an einen obdachlosen Bekannten, den ich nicht bei mir übernachten ließ. An erloschene Liebesbeziehungen, die ich weiterlaufen ließ, weil ich nicht den Mut hatte, ein Ende zu setzen. Ans Sich-nicht-Einmischen, wenn auf der Straße jemand verprügelt wird.

Ich hoffe, dass meinem schmerzhaften Gefühl eine politische Strategie gegenübersteht, die sich schließlich als die richtige erweist. Dass das Morden aufhört. Dass das, was jetzt zögerlich wirkt, am Ende klug ist. Und menschlich.

Mark Scheibe

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