Vetternwirtschaft und Bisse

Dem Cousinentum haftet Vielsagendes an: vor hundert Jahren konnte man mit der Cousinenbehauptung ein Hotelzimmer bekommen, um einer illegitimen Romanze Raum zu schenken. Wirte drückten dabei ein Auge zu und sahen es nicht so eng mit dem Kuppeleiverbot unter Nichtverheirateten. Verboten ist die Liebe zwischen Menschen, die sich die Großeltern teilen, nämlich nicht. 

Geschwister sollten sich aber nicht lieben wollen, das gibt Ärger: 2005 gab es mehrere Jahre Gefängnis für den 35-jährigen Patrick S., der mit seiner jüngeren Schwester vier Kinder hatte. Jedes Jahr gönnt sich das Gericht 8 bis 12 Verurteilungen. Paragraph 173 des Strafgesetzbuches weiß, wie es ist: „Der Beischlafvollzug zwischen Geschwistern und Verwandten aufsteigender Linie wird mit einer Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren bestraft.“ 

In Zeiten, in denen man den Leibhaftigen fürchtete, benutzte man noch die martialische Vokabel „Blutschande“, spätestens seit der Reform des Paragraphen 1973 spricht man von Inzest. Überhaupt scheint die Gesellschaft nicht viel von Verwandtschaftsleidenschaft zu halten. 

Auch die sogenannte Vetternwirtschaft ist nicht gerade das, was man beim Ökonomiestudium in Harvard beigebracht bekommt. Der türkische Präsident Erdogan fand, dass sein Schwiegersohn einen guten Finanzminister abgeben würde. Der ehemalige österreichische Vizekanzler Strache, bekannt dafür, mit exzessiver Hingabe die Grenzen der Seriösität auszuchecken, hatte für seine Gattin immerhin den Posten der Tierschutzbeauftragten über. 

Ich schreibe das, weil ich beim Joggen von einem Hund gebissen wurde. In einem einsamen Tal in den französischen Alpen laufe ich jeden Morgen eine Waldstrecke, die an einem großen Schafstall vorbeiführt. Jedesmal bellt sich ein Rudel Höllenbestien die Kehlen rauh, wenn ich an ihm vorbeilaufe. Wer sich den so friedlich klingenden Namen „Hirtenhunde“ ausgedacht hat, weiß ich nicht. Zum Glück sind die zähnefletschenden Tötungstiere angeleint. Eines hat sich aber losgerissen und rennt auf mich zu, zieht das ganze Register seiner animalischen Drohgebärden und schnappt meine Kniekehle. Es ist ein gewisses Drama, das zum Glück ohne tiefe Wunden und Blutvergiftungen bleibt, ich habe nicht zurückgebissen. Weil ich kein Angeber sein will, erzähle ich jetzt nicht die Heldengeschichte, wie ich mich gockelhaft aufgeblasen und das Tier angebrüllt habe, als wäre ich 5 Meter groß, woraufhin es dann erkannte, wie das Verhältnis von Dominanz und Unterwerfung in unserer Begegnung zu verstehen ist und abtrottete. Auch, dass ich zu beobachtet haben glaube, wie das zurechtgewiesene Biest sogar etwas seinen Schwanz einzog, will ich hier nicht ausbreiten.

Kein Veganer: der gemeine Hirtenhund. Photo: Wikimedia Commons


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite, beim Frühstück oder auf Reisen widerfährt.“


Die Ironie des Vorfalls liegt in der Verwandtschaft: ein paar Tage vor der Attacke beginne ich ein Buch zu lesen. Es heißt „Der Biss“ und ist der dritte Roman meines Cousins Florian Scheibe. Wenn ich Vizekanzler, Präsident oder Minister wäre, ich hätte kein fadenscheiniges Gefühl, meinem Vetter schriftstellerische Regierungsverantwortung anzuvertrauen: das Buch von beeindruckendem Ziegelsteinformat erzählt eine moderne Berliner Geschichte. Da ist ein mitteljunges Paar mit hochfrequentem Moralideal: man lebt in einem veganen Bauprojekt, legt sich selbst Automobilverbot auf und achtet penibel auf den eigenen CO2-Ausstoß. Dabei ist man keine Bauwagenkommune mit verfilztem Äußeren: man riecht sehr gut und arbeitet wohlverdienend in Medienberufen. Bei aller höchstverantwortlichen Fürsorge der natürlichen Welt gegenüber geht den urbanen Zukunftsarchitekten allerdings das Ursprüngliche verloren. Das führt dazu, dass aus einem der Bewohner des ökologisch durchgestalteten Elfenbeinturms tödlicher Hass ausbricht, als sein kleiner Sohn auf dem Spielplatz bei einer Rangelei von einem anderen Jungen gebissen wird.

Was mich so packt, dass ich die knapp 400 Seiten auf einmal verschlinge, ist die Liebe zwischen den Zeilen: Florian Scheibe wirft mich mitten unter die Wirtschaftselite – und zugleich in den Abgrund der Obdachlosigkeit. Er lässt charakterlose Geschäftemacher finster schillern. Bigotte Weltverbesserungsideologen an ihrem Verlangen scheitern. Und verlaufenen Leidenschaften schenkt er abenteuerliche Wege der Erlösung. Dabei schreibt er so, dass ich jeden gern hab. Auch die Bösen. Wer so schreiben kann, muss gehört werden, denke ich. Ich möchte diese Kolumne dafür nutzen, Vetternwirtschaft zu betreiben und das Buch „Der Biss“ von Florian Scheibe ganz dringend an meine Leserherzen legen. Bei nächster Gelegenheit lege ich mein Exemplar auf den Büchertisch im Hotel Art Nouveau.

Mark Scheibe

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