In einem fremden Hotel

Das Parkett, dessen Knarren mir bei jedem Schritt ein Herzrasen schenkte, lässt mich schon seit einiger Zeit kalt. Früher habe ich jede Sohlenberührung zelebriert, heute latsch ich über das Fischgrätenmuster einfach rüber und grummle nebenbei lustlos Anweisungen in mein Handy. „Bitcoins jetzt nachkaufen. Weg mit den nachhaltigen ETFs, bei Gas und Kohle geht jetzt wieder was.“  Die Gewöhnung an den Luxus hat mich achtlos gemacht, zynisch und seelenlos. Ich asche auf den Fußboden der Nichtrauchersuite und beschwere mich telephonisch bei der Rezeption, weil der Kaffee kalt geworden ist. 

Ich bin fremdgegangen. Nach einem dreiviertel Jahr Hotel Art Nouveau war der Gedanke, sich in einem fremden Federbett zu wälzen, einfach zu verlockend. Den neuen Duft frischer, unbekannter Kissen zu atmen, das verführerische Sortiment einer noch unberührten Minibar erst zu sanft zu ertasten und später in gieriger Lust sich einzuverleiben, diese Versuchung war zu groß. Ich musste mal heimlich in ein anderes Hotel.

Der Jugendstilaufzug im Treppenhaus: was hatte ich früher geschwärmt! Stolz wie ein Kaiser zeigte ich Freundinnen die antike Gondel, mit der man sich unter Beben und Knarzen in Zeitlupe das Treppenhaus emportragen lässt. „Gähn!“ denke ich heute. Mir ist jede Wertschätzung verlorengegangen. Durch ein Übermaß an Nähe! Das teure Farrow & Ball-Blaugrau der 5 Meter hohen Altbauwände, ich habe es geliebt. Stundenlang beobachtete ich die subtilen Verläufe im satten, unendlich tiefen Kolorit. 

Wie ich noch Wochen nach meinem Einzug auf dem riesigen Liebesnestbett saß, ein silbernes Tablett aus dem Frühstückssaal vor mir, mit frisch hergestelltem Orangensaft, köstlichem Kaffee und Südfrüchten! im Seidenpyjama von Zimmerli, erfüllt von Verehrung fürs Art-Deco-Mobiliar und den kleinen Kronleuchter, dessen Kreateure vor über 100 Jahren gar nicht wussten, dass sie mit ihrem Designgeschöpf die Discokugel vorweggenommen hatten. 

Selbst Kleinigkeiten machten mich glücklich: ein Bote brachte mir einen Präsentkorb der Konditorei Maître Münch am Meyerinckplatz um die Ecke. Den dazugehörigen handgeschriebenen Brief mit Lippenstiftversiegelung warf ich in den Kamin, zu den anderen.

Dieses Übermaß an Geborgenheit treibt mich nun durch die lasziv zirkulierende Drehtür des Hotel Atlantic in Hamburg. Im in pornöser Großzügigkeit ausstaffierten Marmorfoyer begrüßt man mich in Uniform und haucht meinen Namen. Mit raubtierhafter Geschmeidigkeit gleite ich lustdurchdrungen über den preußischblauen Flor auf der Flaniertreppe zu den oberen Etagen. Die Geißel der Begierde peitscht mich die Stockwerke hinauf.

Durchflutet von den zuckenden Wogen der Leidenschaft vergesse ich die sanfte Umarmung des Hotel Art Nouveau, seine Güte und Zärtlichkeit. Ich denke nicht mehr, ich begehre nur noch und bin bereit, alles um mich herum zu vergessen und hinter mir zu lassen. Der Jugendstilaufzug ist mir sowas von egal jetzt. Kopfüber in den heißen Sud alles verschlingender Wollust tauchend stoße ich mit einem bebenden Drängen die schwere Eichentür auf, deren ölige Scharniere das Tor zum Sinnenrausch begierig offenlegen. 

Im Flur des Hotel Atlantic in Hamburg, dessen erotische Atmosphäre legendär ist.  Auf diesem Schreibtisch verführte Wladimir Putin Gerhard Schröder, heißt es. Legt man die Hände auf das edle Schwarznussfurnier, spürt man das sanfte Beben der Erotik der Macht.


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Der Anstand verbietet es, meine Romanze mit dem heißen Hotelzimmer im Atlantic zu beschreiben. Nach einer ausufernden Liebesnacht mit dem kostpieligen Mobiliar fühle ich mich leer. Und einsam. Die Uniformierten sind immer freundlich, sogar, wenn ich sie beschimpfe. Sind sie womöglich Roboter? Der Kaffee ans Bett kostet ein Vermögen. Ich will zurück. Ich bin jetzt so dünnhäutig, ich kann nicht mit der Eisenbahn nach Hause ins Hotel Art Nouveau fahren, unter all den Menschen aus der Außenwelt. Hoffentlich schwatzt der Taxifahrer nicht die ganzen drei Stunden bis Berlin.

Wieder angekommen beobachte ich durch die historischen Doppelfenster aus mundgeblasenem Glas ein Eichhörnchen durch die riesige Kastanie springen. Zu meiner Freude macht es einen beeindruckenden Satz und fliegt direkt auf den Sims. Es schaut mir kurz tief in die Augen und bedeutet mir, dass ich seiner Freundschaft versichert sein darf. Dann hüpft das Hörnchen von dannen. Ich bin zuhaus.

Mark Scheibe

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