Toxic happiness

Fragt mich jemand nach meinem Befinden, antworte ich meist: „blendend“. Tatsächlich wird mir im Augenblick dieser Frage immer klar, wie gut es mir geht. Keine Bomben, die mir aufs Dach fallen. Wenn ich wollte, könnte ich mit einem Transparent auf die Straße gehen, auf dem steht, dass unser Bundeskanzler ein korrupter Satanist wäre. Außerdem betrachte ich mein Dasein als privilegiert: ich musste kein Abitur machen oder gar studieren. Leute geben mir Geld, damit ich Musik komponiere. Dazu ist das Leben im Hotel der Inbegriff breitspurigen Glücks. Jeden Tag Frühstücksbuffet. Positiv zu denken ist für mich daher selbstverständlich. 

Vor einem Supermarkt in Berlin-Wedding gebe ich einem Mann Geld, der im Rollstuhl sitzt. Ihm fehlen beide Beine und seinen Händen die Finger. Ich bin vom Glanz in seinen Augen überwältigt. Wir kommen ins Gespräch. Er erzählt von seinem Suizidversuch vor über 20 Jahren. Da hat er sich als 19jähriger vor einen fahrenden Zug geworfen. Er lässt keinen Zweifel daran, dass er sein heutiges Leben besser findet als das davor. Ich finde, wenn dieser Mann glücklich sein kann, will ich das auch zumindest versuchen. 

Ich weiß aus aus glaubhaften Wissenschaftsquellen, dass Glück nicht durch Sichvergleichen entsteht. Trotzdem hilft mir der Gedanke, dass meine gelegentliche Niedergeschlagenheit und wiederkehrende Melancholie ihre Gründe nicht in einer Welt finden, die ungerecht zu mir wäre. Denn ich bin hier reich beschenkt, mitten in Deutschland, in einem gesunden Körper. Mit dem Glück, meine Leidenschaft zu Geld machen zu dürfen.

Punschkrapfen der Konditorei Trahbichler in Baden bei Wien    


„Ich bin Mark Scheibe, Komponist, Songwriter und romantischer Sänger am Klavier. Andere sagen, ich sei ein Flaneur, Dandy oder Träumer. Ich wohne schließlich im Hotel. Nach jeder 7. Übernachtung schreibe ich hier – über West-Berlin, Charlottenburg, das Leben im schönsten Boutiquehotel in der Nähe vom Bahnhof Zoo, über Begegnungen mit Gästen und was mir in meinem Künstlerleben als ‚Artist in Residence‘ in meiner Suite und beim Frühstück widerfährt.“


Es gibt jetzt ein Buch über toxic positivity, es heißt „Die Happiness-Lüge“. Als ich darüber lese, fühle ich mich sofort ertappt: ein zwanghafter Optimismus wohnt mir inne, der mir jeden Ärger als Herausforderung schmackhaft machen will. Manchmal bleibt die Wut als natürlicher Reflex dann auf der Strecke. Im Großen und Ganzen aber wende ich eine Katastrophe lieber zum Guten als abzuwarten, bis alles in Schutt und Asche liegt.

Gerade bin ich in Baden bei Wien. Hier sind Konditoren für das Glücklichsein zuständig. Im Hause Trahbichler kann man an den würfelförmigen rosafarbenenen Punschkrapfen nicht vorbeigehen, ohne sich im Grunde seiner Seele unvollkommen zu fühlen. Du weißt, dass du in deinem Leben auf der Suche bist, angesichts einer Auslage mit Punschkrapfen. Auf jedem Punschkrapfen prangt eine halbe Cocktailkirsche. Sie ist die Clownsnase der Überlegenheit. Der Punschkrapfen weiß, dass du ein Sklave deiner Leidenschaften bist. Durchbrich mit der Kuchengabel die himbeerige Glasur. Sie gibt zunächst nach, dann platzt sie zärtlich auf. Unter ihr birst eine rumkugelige Masse von nussigem Duft in erdlüsterner Feuchte hervor. Prall liegen zwei Hälften der süßklebenden Köstlichkeit auf dem Teller und lassen dein Herz seinen Hunger spüren. Das ist toxisches Glück. Ich will es haben.

Mark Scheibe

Gefällt Ihnen diese Kolumne? Tauschen Sie sich mit unserem Artist-in-Residence aus: www.facebook.com/markscheibemusik

Schreiben Sie ihm, er freut sich: Mark Scheibe, ℅ Hotel Art Nouveau, Leibnizstraße 59, 10629 Berlin.